Kritik anlässlich des Welttoilettentags: Nächstes Klo in 60 Kilometern
Pflegebedürftige Behinderte können Klos im öffentlichen Raum oft nicht nutzen: In Niedersachsen gibt es gerade mal zehn „Toiletten für alle“.
Vorher waren Besuche auf zwei Stunden beschränkt, schließlich “Mit einer vollen Windel im Rolli zu sitzen ist sehr unangenehm“, sagt Mill, die sich im Selbsthilfeverein „IntensivKinder“ für die Belange ihrer schwer pflegebedürftigen erwachsenen Tochter einsetzt.
„Behindertentoiletten“ gibt es häufiger; gemeint ist meist ein Raum ohne Barrieren, mit Haltegriff neben dem Klo und Platz, so dass auch ein mittelgroßer Rollstuhl rangieren kann. Doch diese Toiletten sind nicht für alle Behinderten nutzbar. Einige brauchen einen Lifter, um einen sicheren Transfer zwischen Rollstuhl und Klo zu gewährleisten. Und zahlreiche Schwerbehinderte, die sich nicht selbst zielgerichtet bewegen können und Pflege benötigen, nutzen statt einer Toilette Katheter und Inkontinenzvorlagen – eine Art Windel für Erwachsene.
Um die Vorlage zu wechseln, muss die betroffene Person normalerweise liegen. Im Notfall behelfen sich die Behinderten und ihre Pflegepersonen mit dem Fußboden. „Aber das ist natürlich alles andere als hygienisch“, kritisiert die Behindertenbeauftragte der Region Hannover, Sylvia Thiel. Für viele ist es abseits von Würde und Ekel auch gar keine Option: Spastisch gelähmte Menschen, oder schlicht eher schwere Menschen können nicht einfach ohne Hilfsmittel aus dem Rollstuhl auf den Boden gehievt werden und zurück.
Es gibt nur eine Handvoll „Toiletten für alle“
Zum Welttoilettentag am 19. November setzen sich die Beauftragten für Menschen mit Behinderungen der Region Hannover und der Stadt Hannover sowie der Verein IntensivKinder Niedersachsen deshalb für ‚Toiletten für alle‘ ein. Verstanden werden darunter Behindertentoiletten, ausgestattet mit noch etwas mehr Raum, mit Toilette und Liege und einem manuellen Lifter. Auch ein höhenverstellbares Waschbecken kann sinnvollerweise noch Teil einer solchen Sanitäranlage sein.
Im Flächenland Niedersachsen kennt das Projekt,Toiletten für alle' von der Stiftung Leben pur nur zehn solcher öffentlicher Pflegetoiletten, allein sechs davon in Hannover. Wer gerade in Vechta unterwegs ist, hat die Wahl, ob er lieber die 60 Kilometer bis nach Osnabrück oder bis nach Oldenburg fahren will. Von Göttingen aus sind die Wege bis zum nächsten Klo noch einmal deutlich weiter.
Damit steht Niedersachsen nicht einmal besonders schlecht da: In Baden-Württemberg und Bayern sieht es zwar deutlich besser aus, in allen anderen Bundesländern aber gibt es null bis einen Eintrag für öffentliche Pflegetoiletten.
Ganz langsam entsteht ein Bewusstsein
Bei Bau und Anschaffung von Lifter und Liege fallen Kosten an – Mill spricht von 20.000 bis 30.000 Euro -, im Unterhalt aber sind die behindertengerechten Toiletten laut Thiel nicht teurer als andere auch. Eher schon scheitert es am Platz. „Dass wir demnächst überall,Toiletten für alle‘ einführen, halte ich für unrealistisch“, sagt sie denn auch.
Ein paar mehr dürften es aber schon sein. „Ohne,Toiletten für alle' ist für Betroffene keine Freizeitplanung und dadurch auch keine Teilhabe möglich“, mahnt die Behindertenbeauftragte. Immerhin: Aktuell gibt es Pläne für die Umsetzung am Flughafen Hannover. Und in Neustadt am Rübenberge setzt sich die ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt dafür ein, dass beim Neubau des dortigen Rathauses eine Pflegebedarfstoilette entsteht.
Der vielleicht drängendste Handlungsbedarf aber könnte an Schulen herrschen: „Dort wünsche ich mir entsprechende Klos kompromisslos“, so Thiel. „Inklusion scheitert viel zu oft noch an räumlichen Gegebenheiten.“
Bauordnung sticht Teilhabe – noch
In den Bauordnungen der Länder sind Pflegetoiletten noch nicht vorgesehen, „leider“, sagt Anke Mill. Ansprüche stellt sie aber nicht, sondern gibt sich bescheiden und lobt stattdessen, dass seit drei Jahren überhaupt erste nutzbare Toiletten für ihre Tochter im öffentlichen Raum entstehen. „Das ist doch toll. Damit können wir endlich am Leben teilnehmen.“ Gerade ist der Verein IntensivKinder dabei, mit Freizeitparks Gespräche zu führen.
Dabei könnten sie und ihre Tochter, ihre Mitstreiter*innen und deren Kinder, durchaus Ansprüche stellen. Denn wenn man das Recht auf Teilhabe, das sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt, ernst nimmt, müsste die Teilhabe auch durch Klos ermöglicht werden. „Viele Menschen denken, es gibt gar nicht so viele schwer Behinderte. Dabei sehen sie sie nur nicht“, so Thiel. „Und das liegt daran, dass sie nicht unterwegs sind. Weil es unterwegs zum Beispiel keine Toiletten gibt.“
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