Kritik an Kassenplänen: AOK will Turbo-Therapie belohnen
Mit Zusatzvergütungen für Fachärzte und Therapeuten will die AOK Niedersachsen das Warten auf Therapieplätze verkürzen und besonders kurze Behandlungen belohnen. Die Therapeutenkammer ist skeptisch.
HANNOVER taz | Wartezeiten von über zwölf Wochen allein für ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten, über 17 Wochen bis zum Beginn einer Behandlung, das ist in Niedersachsen die Regel. Die Krankenkasse AOK will gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KV) diese Wartezeiten durch ein neues Versorgungsprojekt mit Sonderprämien für Ärzte und Therapeuten verkürzen. Haus- und Nervenärzteverbände loben das Vorhaben. Die Psychotherapeuten allerdings wehren sich.
Innerhalb von 14 Tagen soll bei AOK-Versicherten mit Depression oder dem so genannten Burn-out eine Behandlung beginnen, so sehen es die Pläne der Kasse vor. Der Ablauf: Hausärzte mit einer Zusatzausbildung behandeln Leichterkrankte selbst. Schwerwiegendere Fälle werden an teilnehmende Psychotherapeuten und Fachärzte vermittelt.
Schließen Therapeuten und Fachärzte einen sogenannten AOK-Vertrag ab, müssen sie zusichern, mindestens drei AOK-Patienten in Behandlung aufzunehmen. Die Kasse zahlt dafür Zusatzvergütungen von bis zu 114 Euro pro Patient für Haus-, 175 Euro für Fachärzte und 250 Euro an Psychotherapeuten. Zehn Millionen Euro will die AOK Niedersachsen in dieses nach eigenen Angaben bundesweit einmalige Modell investieren.
12,7 Wochen wartet man in Niedersachsen laut Bundestherapeutenkammer auf ein Erstgespräch beim Therapeuten. Auf dem Land, etwa im Landkreis Peine sind es 30,6 Wochen, über 26 in Leer oder Friesland.
In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg dauert es nur acht bis neun Wochen, in Schleswig-Holstein dagegen 14,6.
Über 50 Therapeuten kommen in Hamburg und Bremen auf 100.000 Einwohner, nur 20,8 in Schleswig-Holstein und 21,3 in Niedersachsen.
75 weitere Kassensitze soll es in Niedersachsen zusätzlich zu den zugelassenen 1.586 Psychotherapeuten nach der neuen Bedarfsplanung von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen geben.
300 bis 400 zusätzliche Kassensitze braucht es nach Schätzung der Psychotherapeutenkammer, um die Wartezeiten auf ein vernünftiges Maß zu verkürzen
Die Resonanz ist allerdings verhalten. Der ursprünglich für Sommer geplante Start ist auf Oktober verschoben. Statt landesweit soll das Projekt dann nur in den Regionen Braunschweig, Oldenburg und Osnabrück beginnen. 600 Teilnehmer gibt es bisher, vornehmlich Haus- und Fachärzte. Bei Psychotherapeuten stößt das AOK-Projekt auf Skepsis: Nur 39 der knapp 1.600 niedersächsischen Therapeuten mit Kassensitz haben zugesagt.
Grundsätzlich, heißt es von Niedersachsens Psychotherapeutenkammer, begrüße man einen schnelleren Zugang zu Behandlungen. Den wolle man aber nicht nur Versicherten einer einzelnen Krankenkasse ermöglichen, sondern allen, sagt Geschäftsführerin Susanne Passow.
Für „berufsethisch bedenklich“ hält man bei der Kammer vor allem die sogenannte Stabilisierungspauschale: 50 Euro Bonus winken Therapeuten, wenn sie die Behandlung von Depressions- oder Burn-out-Patienten binnen zehn Sitzungen abschließen und die Patienten danach sechs Monate nicht mit der gleichen Diagnose erneut behandelt oder krank geschrieben werden. „Unser Ziel ist, dass die Patienten nachhaltig gesund bleiben“, sagt Passow, „eine Depression ist aber in Ultrakurz-Behandlungen von zehn Sitzungen nicht zu heilen.“ Zudem vermittle die Prämie den Eindruck, ohne finanzielle Anreize würden Therapien unnötig in die Länge gezogen.
Die Psychotherapeutenkammer vermutet vielmehr ein Sparmodell: Zielgruppe sind ausschließlich Erwerbstätige mit Anspruch auf Krankengeld, die wegen Burn-outs oder Depressionen arbeitsunfähig sind – eine „besonders kostspielige Patientengruppe“ für die AOK, wie Geschäftsführerin Passow betont.
Die AOK selbst räumt das sogar ein: Um 120 Prozent seien die Tage, an denen Erwerbstätige wegen psychischer Erkrankungen ausfielen, seit 1994 gestiegen, erklärt Niedersachsens AOK-Vorstandsvorsitzender Jürgen Peter. 2012 war jeder zehnte Arbeitsunfähige in Niedersachsen psychisch erkrankt. Mit dem Projekt wolle man jetzt vor allem das „nicht hinnehmbare Versorgungsdefizit“ und die langen Wartezeiten auf Behandlungen beenden, sagt er.
Nach einem Jahr Laufzeit werde das Vorhaben evaluiert und möglicherweise auch auf andere Patientengruppen ausgeweitet. Sollten sich Schieflagen zeigen, werde man das Projekt auch bei den Behandlungszeiten „anpassen“, versichert Peter. Die Kritik am 50-Euro-Erfolgsbonus für die Zehn-Sitzungs-Kurztherapien aber weist er zurück. Wenn sechs Monate nach der Behandlung keine erneute Arbeitsunfähigkeit oder Therapiebedürftigkeit vorliege, „hat das Modell nach unserer Auffassung gewirkt“, sagt er. Auch bei der KV beteuert Sprecher Detlef Haffke, er glaube nicht, „dass Ärzte oder Therapeuten wegen der Prämie eine Behandlung nicht weiter führen, obwohl es medizinisch sinnvoll wäre“.
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