Kritik am Einheitsabitur: „Ohne Goethes 'Faust' geht es nicht“
Das Einheitsabi ruft nicht bei jedem Begeisterungsstürme hervor. Zentrale Bildungsstandards senken das Niveau, fürchtet der Lehrer-Vertreter Josef Kraus.
taz: Herr Kraus, bayerische Schüler sollen bald ähnliche Abituraufgaben lösen wie die in Bremen. Wer muss mehr Angst haben?
Josef Kraus: Es kommt darauf an, ob man sich am bayerischen oder am Bremer Niveau orientiert. Ich befürchte, dass es auf ein mittleres Anspruchsniveau hinausläuft als Kompromiss. Das zeigen alle Vereinbarungen, die die Kultusminister die letzten 25 bis 30 Jahre getroffen haben. Mündliche Noten, die tendenziell besser ausfallen, zählen heute zum Beispiel mehr als früher.
In Bayern machen auch weniger Schüler das Abitur und man siebt stärker aus.
Mehr Schüler zum Abitur zu führen, geht zwangsläufig zulasten der Qualität. Abiturpolitik kann nicht Sozialpolitik sein. Es geht darum, dass junge Leute in der Lage sind, zu studieren. Da hat Sozialpolitik nichts zu suchen.
Bei Bildungsstandards geht es eher um Kompetenzen als um Faktenwissen. Warum sollte das ernsthaft mit einem Niveauverlust einhergehen?
Standards sind mir schlicht zu vage. Es ist problematisch, wenn die Schule nur noch abstrakte Kompetenzen vermitteln soll. Man sollte den Mut haben, einen Pflichtkanon festzulegen. Ohne Goethes „Faust“ geht es nicht.
63, leitet seit 1987 den Deutschen Lehrerverband. Hauptberuflich ist er Oberstudiendirektor am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg, Bayern, außerdem schreibt er Artikel und Bücher. Zuletzt erschienen: „Bildung geht nur mit Anstrengung“.
Ist es nicht wichtiger, dass man grundsätzlich mit literarischen Texten umgehen kann?
Nein, das ist mir zu wenig. Dann kriegen wir kulturlose und geschichtslose junge Leute. Solche Werke zu kennen, ist Teil von Bildung. Bildungsstandards brauchen für mich eine kanonische Unterfütterung. Ohne Kenntnisse zentraler literarischer Werke oder auch der Bibel kann man unsere Kultur nicht begreifen.
Von einem Kanon profitieren die Kinder, in deren Familien Goethes Werke bereits im Regal stehen. Ist es nicht gerechter, sich an Grundkompetenzen zu orientieren statt an bildungsbürgerlichem Wissen?
Was spricht gegen einen klassisch bürgerlichen Kanon? Es ist doch auch für Schüler aus sozial schwächeren Schichten eine große Chance, anspruchsvolle Literatur kennenzulernen, wenn die Schule Wert darauf legt.
Also müsste als Nächstes ein bundesweit einheitlicher Lehrplan für die Oberstufe folgen.
Ich bin dafür, 50 Prozent bundesweit vorzugeben und die anderen 50 Prozent des Stoffes den Ländern zu überlassen.
Warum vereinheitlichen wir das Gymnasium nicht ganz?
Wenn sich die Länder konsequent an das Vereinbarte halten, ist es mir egal, wie sie es machen. Ich bin sehr für föderalen Wettbewerb.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind