Kritik Friedenspreis an Jaron Lanier: Die Maschine ist ein Teil von uns
Jaron Lanier erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Dabei hat er die Probleme des Netzzeitalters missverstanden.
Wenn am Sonntagvormittag bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche die Kameras der ARD auf Sendung gehen, wird der Börsenverein Jaron Lanier als eminenten Kritiker des Internetzeitalters ehren.
Ist Jaron Lanier aber die Person, die die deutsche Öffentlichkeit in dem Mann mit den Dreadlocks zu sehen glaubt? Man liest, Jaron Lanier sei nicht nur einer der „wichtigsten Konstrukteure der digitalen Welt“. Er gilt gar als „Informatiker, der das Internet mitentwickelte“. Kaum einer stellte diese Einschätzungen in Frage, man nahm sie hin wie eine sattsam bekannte Wahrheit. Florian Cramer schrieb auf dem Blog des Merkur: „Nichts davon stimmt.“ Wer wissen will, warum Lanier nicht zu den Architekten des Internets zählt, sollte Cramers Beitrag lesen.
Abgesehen davon hat Lanier das Internet so gründlich missverstanden wie kaum jemand anderes. Mitte der achtziger Jahre propagierte er die „virtuelle Realität“, in die man alsbald mittels Datenbrille und Datenhandschuh eintauchen würde. Von dieser virtuellen Realität ist damals wie heute im alltäglichen Gebrauch des Netzes wenig bis gar nichts zu spüren.
Das Netz basiert auf Text. Zum einen ist das der Code, der technisch der Kommunikation im Netz zugrunde liegt. Zum anderen ist das Medium, durch das wir im Netz kommunizieren, ebenfalls Text.
Ohne Text wäre das Netz unbrauchbar
Die bunten Bilder haben das Internet einst über die Zirkel der Hacker und Nerds hinaus attraktiv gemacht. Die eigentliche Revolution aber trug den Namen E-Mail. Ohne Text wäre das Netz schlicht unbrauchbar: Was wären Google, Facebook und Twitter ohne ihn?
Auch Smartphones sind Geräte, auf denen vor allem Textnachrichten ausgetauscht werden. Insofern ist richtig, wenn Florian Cramer schreibt, dass der deutsche Buchhandel nun ironischerweise einen Computerentwickler auszeichnet, „der Zeit seines Lebens versucht hat, Computer und digitale Medien von der Dominanz der geschriebenen Sprache zu befreien“.
Laniers 2013 erschienenem Buch „Who owns the future?“ liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Gratiskultur im Netz zum Problem geworden ist. In einem Interview hat er erklärt: „Das Dogma oder die Internetideologie lehrt uns: Ja, schon richtig, wir zwingen Musiker, ihre Musik kostenlos abzugeben, aber dafür bekommen sie ebenfalls kostenlose Publicity, mit deren Hilfe sie andere Sachen verkaufen können. Für bereits bekannte Künstler wie Radiohead mag die Rechnung aufgehen, für alle anderen ist das nicht der Fall.“
So richtig Laniers Beobachtung ist, so widersprüchlich ist sein Vorschlag zur Behebung dieses Missstandes, schlägt er doch ein System von Mikrozahlungen vor. Das Beispiel Spotify lehrt uns aber, dass Musiker auch von Mikrozahlungen fürs Abspielen ihrer Stücke nicht leben können – außer sie heißen Radiohead.
Der gute libertäre Kalifornier
Lanier glaubt gar, kommerzielle Rechte jedes Einzelnen an jeder Äußerung im Netz eigneten sich besser, das Problem zu lösen, als neue Formen eines bürgerlichen Rechts auf Privatsphäre. Aber wird Jaron Lanier am Sonntag denn nicht als Verfechter von mehr individuellen Rechten gegenüber Datenkraken wie Google geehrt, deren Geschäftsmethoden er mit der Erpressung von Schutzgeldern vergleicht? Das stimmt schon, nur ist anscheinend keinem aufgefallen, dass Lanier als guter libertärer Kalifornier an technologische Lösungen für ökonomische Probleme glaubt: Programmieren wir also einen Marktplatz dafür.
Zuletzt hat Lanier das Internet für den Niedergang der Mittelklasse verantwortlich gemacht. Das Netz habe viele Menschen aus der formellen Ökonomie der entwickelten westlichen Länder in die informelle Ökonomie zurückgedrängt. Sicher ist das Netz Teil dieses Problems. Es ist aber weder seine alleinige Ursache noch seine Lösung.
Wenn Amazon keine Steuern zahlt, muss die Politik länderübergreifend dagegen angehen. Wenn Amazon weit unter Tarif zahlt, müssen die Arbeiter streiken. Und die Konsumenten sollten überlegen, ob sie nicht doch beim Buchhändler ihres Vertrauens ihren Schmöker bestellen.
Wenn man schließlich die Frage der digitalen Demokratie stellen will, wie Lanier es in seinem Beitrag über das Vergessen im Netz getan hat, wo er ein Demokratiedefizit konstatiert, weil Suchmaschinenbetreiber die unvorsichtigen Äußerungen von Usern im Netz nicht löschen wollen, dann muss die Analyse woanders beginnen.
Das Sammeln von Daten als Privileg
Evgeny Morozov ist näher an den Kern der Frage herangerückt, als er schrieb: „Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht die mangelnde Kontrolle über unsere Daten, sondern die Tatsache, dass moderne politische Systeme, die über solche Datenmengen verfügen, den Bürger für entbehrlich halten – und Bürger, die sich im digitalen Vergnügungspark namens ’Content‘ amüsieren, nur allzu bereit sind, sich aus der Sphäre des Politischen zurückzuziehen.“
Nur wer flüchtig liest oder sich die Recherche spart, kann Lanier für einen humanistischen, sozialdemokratischen Ideengeber fürs digitale Zeitalter halten. Und nur wer einem altertümlichen Authentizitätsbegriff huldigt, kann, wie es der Stiftungsrat des Friedenspreises in seiner Begründung tut, „die immer größere werdende Diskrepanz zwischen Mensch und Maschine, Wirklichkeit und virtueller Realität“ als wesentliches Problem unserer Zeit beschreiben.
Die Maschine ist ein Teil von uns, und der Chat mit einem Lover übers Mobiltelefon nicht unwirklicher als ein lauschiger Plausch in der Laube. Die Fragen, die das Internet uns stellt, sind zu wichtig geworden, um sie an Entwickler zu delegieren. Das vielleicht größte Problem, dem wir uns gegenübersehen, ist ökonomisch-politischer Natur: Das Sammeln von Daten und das Verwandeln von Aufmerksamkeit in Geld ist Privileg einiger weniger geworden.
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