Krise in Brasilien: „Alle haben die Schnauze voll“
Die Präsidentin ist unbeliebt, der mögliche Nachfolger ist es auch. Das Land ist gespalten, die Situation überfordert sogar die Stammtische.
Ist es in Brasilien nicht lange Zeit bergauf gegangen? „Für mich nicht, und auch nicht für meine Familie“, mischt sich eine ältere Dame ein, die mit ihrem adrett frisierten Hund darauf wartet, bedient zu werden. „Du kannst alle hier in Viertel fragen, alle haben die Schnauze voll.“
Es stimmt, im Stadtteil Tijuca scheint eine große Mehrheit für ein sofortiges Ende der Regierung zu sein. Das alte, inzwischen etwas heruntergekommene Mittelklassenviertel ist durch die Bergkette mit der Christus-Statue von der noblen Strandregion getrennt. Die Hänge rund um die Hochhäuser im Herzen Tijucas sind gespickt mit Favelas. Wie überall in Rio de Janeiro lebt Arm und Reich nebeneinander, aber nicht miteinander.
In einer Straßenkneipe am Fuß des Armenviertels Salgueiro, Geburtsort einer der berühmtesten Sambaschulen, ist die Stimmung aber ähnlich. „Tchau querida – tschüß, meine Liebe“, kommentiert ein fröhlicher Mann und zitiert damit die Pappschilder, die viele Oppositionsabgeordnete bei der letzten Parlamentsdebatte über die Zukunft der ersten Frau im höchsten Staatsamt Brasiliens in die Höhe hielten.
Auf und Ab des Intrigenspiels
„Meint ihr wirklich, dass es mit einer anderen Regierung besser wird?“ Ein junger Mann mischt sich wie selbstverständlich ein, hier kennen sich alle. „Wir haben doch immer für diese Regierung gestimmt, und jetzt soll sie plötzlich ersetzt werden? Und von wem?“ Fast wäre eine Diskussion entbrannt, doch das wollte niemand. Statt dessen ein verbrüderndes Lachen, wie wenn Fans konkurrierende Fußballteams zusammen trinken.
Am Mittwoch wird der Senat endgültig darüber abstimmen, ob Rousseff für maximal 180 Tage von Amt suspendiert wird. Die Opposition macht sie für die schwere Wirtschaftskrise und einen weitverzweigten Korruptionsskandal verantwortlich. Im Amtsenthebungsverfahren, das im Dezember auf den Weg gebracht wurde, werden ihr aber lediglich Haushaltstricks vorgeworfen: Sie habe die Zahlen geschönt und damit ihre Chancen auf Wiederwahl im Oktober 2014 unfair erhöht.
Olympia-Kritiker
Doch nichts ist im Auf und Ab des Intrigenspiels sicher: Am Montagmittag annullierte der Parlaments-Interimspräsident Waldir Maranhão plötzlich das Votum der Abgeordneten, mit dem der Prozess Mitte April an den Senat weitergeleitet wurde. Ein paar Stunden später überlegte er es sich anders: Es wird abgestimmt.
Tonangebend sind die Gegner der Amtsenthebung vor allem in den Gewerkschaften, bei den Anhängern sozialer Bewegungen, unter Künstlern und Intellektuellen. Verteidigt wird aber nicht Rousseff und auch nicht ihre Arbeiterpartei PT, die aus Sicht vieler Linker schon lange ihre Prinzipien verraten hat. „Sie ist inzwischen genauso korrupt wie die anderen Parteien. Agrarreform, Menschenrechte, Polizeigewalt – all diese Themen haben bei Rousseff keine Priorität“, sagt eine Aktivistin des olympiakritischen Komitees energisch. Aber gegen den Staatsstreich, gegen die Einsetzung eines neuen Präsidenten ohne Wahlen, müsse mobilisiert werden.
Opposition ohne Alternative?
„Das Schlimmste ist das Hassklima, das geschaffen wurde, um den Putsch zu rechtfertigen“, ergänzt ein Mitstreiter. „Heute überlege ich zweimal, ob ich ein rotes T-Shirt anziehe. Je nachdem, wo du hingehst, kann es Anfeindungen auf der Straße geben.“ Auffällig ist die Polarisierung, wenn es um die Amtsenthebung geht. Ein „Ja, aber …“ oder „einerseits, andererseits“ kaum zu hören. Die Stimmung ist aufgeheizt.
Ganz anders die Meinungen über Vizepräsident Michel Temer, der schon am Donnerstag das höchste Staatsamt übernehmen könnte. Er ist noch unbeliebter als Rousseff, und beide Seiten sind sich weitgehend einig, dass seine Regierung nichts Gutes verheißt. Doch mangels Alternative innerhalb der Opposition setzen die Rousseff-Gegner, die zumindest gefühlt in der Mehrheit sind, alles daran, ihn an die Macht zu hieven.
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