Krimiserie „Mare of Easttown“ auf Sky: E-Zigarette, kein Lippenstift
In „Mare of Easttown“ ist die titelgebende Ermittlerin, gespielt von Kate Winslet, eine Wucht – ebenso wie das sorgfältige Kleinstadtpanorama.
Vielleicht muss man nicht gleich bis ins Jahr 1962 zurückschauen, als im deutschen Fernsehen mit dem Francis-Durbridge-Sechsteiler „Das Halstuch“ der allererste „Straßenfeger“ lief und die Suche nach dem Halstuchmörder die ganze Bundesrepublik beschäftigte. Und als der Kabarettist Wolfgang Neuss, der seine Identität am Tag vor der Sendung der letzten Folge in einer Zeitungsannonce preisgab, Morddrohungen erhielt und sich von der Bild-Zeitung einen „Vaterlandsverräter“ schimpfen lassen musste.
Nein, wahrscheinlich genügt es, drei Jahrzehnte zurückzugehen. Damals (1990/91) war es die Frage, wer in der Kleinstadt „Twin Peaks“ die junge Laura Palmer ermordet hatte, die die Fernsehzuschauer umtrieb. Und nachdem das Geheimnis gelüftet war, ging die Einschaltquote in den Keller.
So war das damals. Und ein bisschen erinnert das Bohei, das englischsprachige Medien dieser Tage um eine neue Krimiserie (des Bezahlsenders HBO) veranstaltet haben, schon daran.
In der Tat ist der Schauplatz in einer amerikanischen Kleinstadt mit „Twin Peaks“ vergleichbar. Die Teenager-Mutter Erin wird am Ende der ersten von sieben Folgen zum Mordopfer. Davor verwenden Serienschöpfer Brad Ingelsby und Regisseur Craig Zobel (zwei Folgen „The Leftovers“, eine Episode „Westworld“) – beide gut etabliert, aber noch ohne Starstatus – viel Zeit darauf, das Kleinstadtpanorama zu entfalten.
Ermittlerin von Format
Diesen Mikrokosmos, in dem jeder jeden kennt, wenn er nicht gar mit ihm verwandt ist. Das wird sich ändern, wie gesagt, aber die titelgebende „Mare of Easttown“ hat als Detective Sergeant bei der örtlichen Polizei erst mal nicht viel mehr zu tun, als die Anzeige einer älteren Frau aufzunehmen, deren Enkelin beim Duschen von einem Voyeur beobachtet worden sein soll. Da ist das eigene Familienleben – vier Generationen unter einem Dach: Mare, ihre Mutter, ihre Tochter und ihr Enkel; der Ex im Haus nebenan – schon wesentlich aufreibender.
Um eine Ermittlerin von solchem Format zu finden, muss man schon 25 Jahre zurückblicken
Mare wird gespielt von Kate Winslet (in ihrer ersten Serienrolle seit „Mildred Pierce“ vor zehn Jahren), die auch mitproduziert hat, wie das heute so üblich ist. Und das ist schon eine Ermittlerin von Format, die sie sich da ausgesucht hat. Da muss man auch schon wieder 25 Jahre zurückblicken, zur Oscar-Abonnentin Frances McDormand: Eine solche Kombination aus hemdsärmeliger Sprödigkeit und überragender Kompetenz wie bei Marge Gunderson, der hochschwangeren Polizeichefin aus „Fargo“, hatte man davor noch nicht und hat man danach nicht wieder gesehen.
Kein Ombré, nicht Grunge
Bis jetzt: Mares rausgewachsene Blondierung hat bestimmt nichts mit der angesagten Ombré-Frisur zu tun. Ihre Holzfällerhemden sind nicht Grunge. Das Rauchen von E-Zigaretten wird ganz sicher nie cool aussehen. Als Mare sich, sie kann es selbst kaum glauben, mit einem Mann verabredet, muss sie in ihrer Schublade lange nach einem noch irgendwie brauchbaren Lippenstift suchen.
Mare ist das Zentrum – keine Figur beliebig. Ihr Date zum Beispiel: Der Schriftsteller (Guy Pearce) mit dem einen Bucherfolg vor vielen Jahren, der jetzt an einem Provinzcollege Creative Writing unterrichtet, ist ja so ein amerikanisches Klischee. Eigentlich. Aber dann wurde das Buch damals, in den 1990ern, sogar verfilmt, wenn auch nur fürs Fernsehen. Mit Jill Eikenberry, mit der es vielen, auch Amerikanern, so gehen könnte wie Mare („I don’t know who that is“).
Naturalistisches Setting
Die aber damals, in den 1990ern, tatsächlich eine gewisse Größe im US-TV-Geschäft war, als Teil des Anwaltsteams in der (tollen) Serie „L.A. Law“. Das Überbringen der Todesnachricht ist eine Standardszene im Fernsehkrimi. Aber so ein gestandener Redneck reagiert dann eben doch etwas anders, als man das aus dem „Tatort“ kennt.
So sorgfältig die Figuren gezeichnet sind, so naturalistisch (und also überhaupt nicht surreal-mystisch wie in „Twin Peaks“) ist das Setting. Die Menschen fahren riesige SUVs oder Pick-ups, haben aber kein Geld (und keine Versicherung) für die medizinische Versorgung ihrer Kinder.
Der Genrekrimi als Sittenbild, das ist ja im Grunde ein ganz alter Hut (im Stile von Sjöwall/Wahlöö). Und „Mare of Easttown“ ist eigentlich geradezu altmodisches Fernsehen, mit dem jeweils neuen Hauptverdächtigen am Ende einer jeden Episode. Aber es ist handwerklich so verdammt gut gemacht. Kate Winslet ist eine Wucht. Und der Cliffhanger zwischen Folge fünf und sechs – könnte sein, dass Kritiker noch in Jahrzehnten darauf Bezug nehmen werden, wie heute auf „Das Halstuch“ oder „Twin Peaks“.