Kriminologin über Kindstötungen: "Diese Fälle zeigen ein Kontrolldefizit"
Trotz der beiden jüngsten Familientragödien in Deutschland ist die Zahl der Kindstötungen nicht gestiegen, sagt Kriminologin Frommel im taz-Interview.
taz: Frau Frommel, ist die Zahl der Fälle, in denen Mütter und Väter ihre Kinder umbringen, gestiegen ?
Monika Frommel: Es ist eine Frage der Wahrnehmung, die Zahlen sind nicht gestiegen. 1998 ist der weniger hart bestrafte Tatbestand der Kindestötung kurz nach der Geburt weggefallen, weil die Zahl der Fälle, wo die Mutter ihr Neugeborenes tötete, beständig zurückging. Das war früher ein soziales Problem. Jetzt gelten solche Taten als ganz normaler Totschlag oder Mord. Und wir sind sehr überrascht über diese schrecklichen Fälle, die regelmäßig durch die Medien gehen.
Ist der Eindruck, dass immer mehr Eltern ihre Kinder umbringen, also eine Frage der öffentlichen Wahrnehmung ?
Es gibt eine gesellschaftliche Veränderung: Die Grundrechtssensibilität für Kinder, die Bereitschaft, Kinder zu schützen, ist gestiegen. Wir haben zudem eine Verschiebung in der Strafrechtsdebatte, wo im Vergleich zu früher weniger der Täter, sondern zunehmend das Opfer im Fokus steht. Und die hilflosesten Opfer sind medial immer die interessantesten. Kinder sind nun mal gegenüber ihren Eltern schwach und ausgeliefert, ob es um Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch geht.
Oft wird ja behauptet, diese Tötungen oder Vernachlässigungen fänden sich vor allem in sogenannten Unterschichtsfamilien.
Das sind natürlich mehrfach und hoch belastete Menschen, die so etwas tun, die auch Probleme haben und die Hilfsangebote schwer wahrnehmen können, etwa weil sie völlig isoliert sind. Ich würde das aber nicht unter Unterschicht abheften, dazu ist die Gruppe zu klein. Es sind hochpathologische Menschen, aber es ist kein Effekt von schlechter sozialer Lebenslage als solcher.
Was sind die Motive von Müttern, die ihre Kinder umbringen ?
Ich würde das psychopathologisch einstufen. Da müsste man sich ganz genau anschauen, was da passiert. Es sind Extremfälle, die haben wir durchgängig in unserer Geschichte gehabt und sie sind konstant über die Jahre hinweg. Das sind vor allem Fälle für den Sozialpädagogen und Psychiater, weniger für die Kriminologie.
Die Tötung von Kindern durch Eltern erzeugt Schrecken. Fehlen uns dafür die Verarbeitungsmechanismen?
Wir halten es nicht mehr für möglich, dass wir solche schrecklichen Vorfälle noch haben. Wir sind ja daran interessiert, unsere soziale Kontrolle zu verbessern, und haben dies auch getan. Diese Fälle zeigen ein Kontrolldefizit. Wir leben in einer stark individualisierten Gesellschaft. Nun sind es schwache und überforderte Individuen, die uns entgegentreten. In einer individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne, also auch insbesondere Kinder, stärker vom Staat geschützt werden können. Deswegen werden diese Fälle zum Kriminalfall. Früher waren es Familienprobleme.
INTERVIEW: B. DRIBBUSCH
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