Kriminologe über Selbstbewaffnung: „Angst macht enorm konservativ“
Der Run auf den Kleinen Waffenschein rührt von einem subjektiven Gefühl der Unsicherheit her, sagt der Hamburger Kriminologe Nils Zurawski
taz: Herr Zurawski, sind die 50 Euro für einen Kleinen Waffenschein gut investiertes Geld?
Nils Zurawski: Ich halte Geld, das man für Waffen ausgibt, in den meisten Fällen für schlecht investiertes Geld. Für wen wäre es gut investiert? Vielleicht für den, der sie sich kauft und sich dann sicherer fühlt. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die Leute weniger Angst haben, wenn sie solch eine Waffe in der Tasche haben. Sie sind ja nur bewaffnet, können aber mit den Waffen nicht umgehen. Ich halte das für rausgeschmissenes Geld.
Die Polizei teilt da Ihre Meinung und warnt, dass das Tragen von Waffen zur Eskalation von Konflikten beitragen kann.
Natürlich. Wenn ich nur Fäuste habe, um mich zu wehren, dann bekomme ich eine aufs Maul. Wenn ich eine Waffe habe, riskiere ich etwas anderes. Wir wissen es im Grunde nicht: Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, die enorm viel Waffen hat, in der aber erstaunlich wenig Schusswaffendelikte vorkommen. Waffen spielen eine tabuisierte Rolle, sie tauchen in der Öffentlichkeit nur bei der Polizei auf, ansonsten sind sie im öffentlichen Raum ein echtes Schreckszenario. Von daher stelle ich mir vor, dass jemand, der etwa auf der Reeperbahn entlanggeht und eine Schusswaffe zückt, einen unabsehbaren Kaskadeneffekt auslöst.
48, arbeitet am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Seine Habilitationsschrift handelte von den Zusammenhängen zwischen Überwachung und Weltbild.
Die Waffen könnten verdeckt getragen werden, sodass nicht von vorneherein klar ist, dass jemand bewaffnet ist.
Sicher – aber was passiert, wenn wir nicht mehr sicher sein können, dass die meisten Leute, denen wir begegnen, nicht bewaffnet sind? Man weiß ja nicht, wozu die Waffen eingesetzt werden: Streit um einen Parkplatz, abends auf der Reeperbahn, beim Verkehrskonflikt … Zurzeit kann ich sicher sein, dass da nur gebrüllt wird, aber nichts weiter passiert.
Erst einmal ist das ja ein positiver Befund: viele Waffen, aber – anders als etwa in den USA – wenig Delikte in Verbindung damit. Woran liegt das?
In den USA gibt es eine Mythologie der Eroberung des amerikanischen Kontinents, die US-amerikanische Verfassung erlaubt indirekt das Tragen von Waffen. Diesen Stellenwert haben sie bei uns nicht. Gleichwohl gibt es eine Mengen Waffen ganz legal in Privatbesitz und nahezu jedes Mal, wenn es einen Amoklauf gibt, geschieht das mit Waffen, die die Eltern zu Hause stehen haben.
Die Amokläufe sind zum Glück die absolute Ausnahme.
Wir leben in einer stark pazifizierten Gesellschaft: Wir haben die Wehrpflicht abgeschafft, schon zuvor hat die Hälfte der Wehrpflichtigen verweigert. Das heißt nicht, dass Gewalt, auch direkte, nicht in unserer Gesellschaft vorkäme, aber die Tendenz ist generell rückläufig.
Um so frappierender ist die gewachsene Nachfrage nach dem Kleinen Waffenschein. Generell wird das mit den Übergriffen in Köln und Hamburg an Silvester 2015 erklärt. Finden Sie diese Deutung schlüssig?
Nein. Sicher gab es nach Köln noch einmal eine höhere Aufmerksamkeit, vielleicht war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, aber schon vorher gab es eine Gemengelage aus Angst und Unsicherheit und den Diskurs der AfD, wir würden überrannt. Die Gründe für die Bewaffnung sind vermutlich vielfältig. Die Polizei spricht viel von Einbruchskriminalität, da haben Leute Angst vor Einbrechern und wollen sich bewaffnen, obwohl die Einbrecher wahrscheinlich kommen, wenn sie nicht zu Hause sind. Seit dem 11. September 2001 greift die Angst ohnehin um sich: Wir stünden im Zentrum des Terrorismus, sagt der Innenminister, wir hätten neue Gefährdungslagen, aber man könne nicht sagen, welche. Die Angst macht enorm konservativ und führt zu einer Verteidigungshaltung, die für mich als fast 50-Jährigen in dieser Republik neu ist. Wir bauen eine Burg und verschanzen uns – das finde ich beängstigend und keine gute Entwicklung. Aber in dieses Bild passen die Waffenscheine. Da müsste man untersuchen, was es mit den Leuten macht, eine Waffe herumzutragen. Haben sie weniger oder mehr Angst?
Es ist paradox: Jede Kriminalitätsstatistik zeigt, dass die Zahl der schweren Gewaltverbrechen zurückgeht, Sie sprechen von einer pazifizierten Gesellschaft, gleichzeitig bröckelt das subjektive Sicherheitsgefühl.
Dieses subjektive Sicherheitsgefühl hat ja nichts damit zu tun, ob ich Opfer einer Gewalttat geworden bin. Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, es geht uns extrem gut – vielleicht ist der Grund der Unsicherheit diese Saturiertheit. Es bleibt schwierig zu erklären. Sicher ist, dass damit gut Politik zu machen ist, siehe AfD, siehe Polizeigewerkschaften, die die Unsicherheit nutzten, um mehr Polizeibeamte zu fordern.
Was könnte die Politik tun, um ein Sicherheitsgefühl zu schaffen, das den Tatsachen unseres alltäglichen Lebens entspricht?
Warum muss immer die Politik alles machen – wir müssen das tun. Wir müssen sehen, dass den meisten Leuten am Tag nichts passiert und das auch für den nächsten Tag als Gewissheit nehmen. Die Politik kann die Diskurse bis zu einem gewissen Grad bestimmen, aber wir müssen fragen: Was für Gründe hat diese Unsicherheit eigentlich? Vielleicht hat sie gar nicht so viel mit Kriminalität zu tun, sondern mit Sorge um meinen Job, um den Klimawandel, um die Schwulenehe – die alte Welt scheint aus den Fugen und die Leute fragen sich, was sie darin zu tun haben und wie ihr Leben künftig aussehen soll. Das macht viel unsicherer als der Räuber, der nie kommt.
Noch einmal zur Politik: Welchen Diskurs könnte und sollte sie initiieren?
Hin zu einer Gesellschaft, die mehr Selbstbewusstsein hat und die offener ist. Aber natürlich: Hartz-IV und die Abstiegsangst der Mittelklasse …
… die in manchem so irrational wirkt wie die Angst um die Sicherheit. Ist Ängsten, die so irrational sind, überhaupt beizukommen?
Das ist eben die Frage: ob Menschen immer so rational sind. Früher haben die Leute an Hexen oder Feen geglaubt, oder dass ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte, heute scheint die Welt durchweg rationalisiert. Aber immer gibt es etwas, was wir nicht verstehen. Die Grundängste des Lebens, dass wir nicht wissen, wohin wir gehen, bleiben und um uns herum scheint die Welt aus den Fugen: Millionen von Menschen fliehen zu uns, in Syrien knallt es, in der Ukraine knallt es. Und sobald wir etwas nicht verstehen, müssen wir angesichts dieses Nicht-Verstehens unsere Ängste irgendwohin projizieren: Im Mittelalter wurden die Juden beschuldigt, Brunnen zu vergiften und heute die Flüchtlinge, sie wollten unsere Frauen vergewaltigen. Es gibt vielleicht sogar eine Angst vor der Angst – und ich bin unsicher, ob es hilft, den Leuten zu sagen: Laut Kriminalitätsstatistik gibt es keinen Grund dazu.
Was würde denn helfen?
Sicherheit hat etwas mit Selbstvertrauen zu tun, damit, wie man auf Menschen zugeht, wie man mit Andersartigkeit umgeht. Es ist natürlich, Angst vor Fremden zu haben, aber man kann offener damit umgehen und sehen, dass sich das Risiko lohnt, dass man etwa mit Freundlichkeit belohnt wird.
So wie Sie es darstellen, werden wir der Angst nie ganz entgehen können – und damit auch nicht dem Projektionsbedürfnis.
Ich habe auch Angst vor bestimmten Dingen – aber darüber kann man ja nachdenken und reden. Das tut aber keiner. Die einen sagen, ihr sollt alle herkommen, die anderen sagen, die klauen uns die Frauen. Niemand sagt: Ich habe Angst, lass uns darüber reden, wie gehst du damit um? Das wird nicht getan, weder von der Politik noch von uns. Stattdessen wird mit den Ängsten gespielt. Ich mag die Pegida-Leute wirklich nicht, aber niemand fragt sie, außer vielleicht auf dem Dresdner Marktplatz: Wovor habt ihr eigentlich Angst, erzählt mal davon. Lieber baut man eine Mauer. Das finden alle super, denn über Ängste zu sprechen, wirkt schwach.
Ich glaube mich zu erinnern, dass es mal in einer Bundespräsidentenrede anklang.
Im alltäglichen Marktgeschrei der Politik ist das zu kompliziert. Da gab es 1.000 Meinungen, kein Schwarz-Weiß, sondern lauter Grauschattierungen, wie soll man sich da zurechtfinden?
Ist es auch eine Frage des politisch-korrekten Diskurses, der es schwierig macht, Ängste im Umgang mit Flüchtlingen zu formulieren?
Das glaube ich nicht. Wenn, dann haben uns die Schreihälse von rechts die Freude an der Diskussion verdorben, weil man leicht in ihre Ecke geholt wird.
Ein Erklärungsansatz für die Ängstlichkeit unserer Gesellschaft ist, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben und dass alternde Menschen leichter zu verunsichern sind. Daran lässt sich wenig ändern.
Das stimmt – wobei: Wir können junge Menschen aufnehmen.
Vor denen haben wir ja Angst.
Das stimmt. Vor den jungen am meisten.
Die Zahl der Waffenscheinanträge ist inzwischen wieder gesunken, wenn auch auf hohem Niveau. Wie glauben Sie, wird sich das Sicherheitsbedürfnis in den nächsten Jahren entwickeln?
Wenn ich das wüsste, wäre ich reich. Dazu müsste man die Entwicklungen der letzten 20 Jahre ansehen. Im Augenblick scheinen Möchtegern-Diktatoren, Neu-Sultane und lustige Präsidenten gut mit der Angst zu leben, weil es sie stark macht. Von daher denke ich, dass sie sich gesellschaftlich überträgt und auf hohem Niveau bleibt.
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