Kriminologe Pfeiffer über jugendliche Täter: "In München muss mehr passieren"
Hannover ist besser als München darin, der Jugendkriminalität vorzubeugen, meint der Kriminologe Christian Pfeiffer. Das liegt vor allem an der schulischen Integration.
taz: Herr Pfeiffer, in Ihrer neuen Studie zur Jugendgewalt schneidet die Stadt Hannover besonders gut ab, München dagegen eher schlecht. Warum?
Christian Pfeiffer: Auch Hannover hat noch einen langen Weg vor sich. Nichtsdestotrotz gibt es Erfolge, insbesondere bei der schulischen Integration junger Migranten. Aber man kann die positive Entwicklung nicht allein auf diesen Aspekt zurückführen.
Sondern?
Hannover steht für exzellente Nachbarschaftsinitiativen und bürgerschaftliches Engagement. Die Tatsache, dass junge Türken hier inzwischen zu fast 70 Prozent unterwegs zum Realschulabschluss oder zum Abitur sind, ist stark darauf zurückzuführen, dass sich in der Stadt die Bürgerstiftung, viele Vereine und hunderte von Bürgern dafür engagieren, kostenlos schulische Nachhilfe zu geben und den jungen Migranten im Freizeitbereich attraktive Optionen anzubieten.
Der Fall der U-Bahn-Schläger von München ging durch die Medien. Ist die Gefahr dort größer, von Jugendlichen mit Migrationshintergrund angegriffen zu werden, als in Hannover?
So pauschal würde ich das nicht sagen - außerdem begehen ja auch deutsche Jugendliche Straftaten. Aber in München muss insbesondere im Hinblick auf die Integration viel mehr passieren. Dass wir dort bei unserer Schülerbefragung von neunten Klassen 61 Prozent der jungen Türken in der Hauptschule angetroffen haben, während es in Hannover nur 32 Prozent waren, beschreibt das Problem.
Was läuft in München falsch?
Hier wurden die jugendlichen Migranten zwischen 1998 und 2005 einfach nicht gut integriert. Es ist doch ein Alarmsignal, dass dort die Zahl türkischer Jugendlicher, die ein Gymnasium besuchen, gesunken ist. Schuld daran sind auch die verbindlichen Schullaufbahn-Empfehlungen der Grundschulen. In Hannover, wo der Elternwille entscheidet, haben sich die türkischen Eltern sehr oft der Hauptschulempfehlung widersetzt. Und jetzt zeigt sich, dass ihre Kinder fast durchweg in der Realschule oder sogar im Gymnasium gut zurechtgekommen sind.
Sie kritisieren das dreigliedrige Schulsystem, die CSU will daran festhalten. Hören Ihnen die Verantwortlichen nicht zu?
Es gibt für mich keinen Zweifel: Die Zeit der Hauptschulen geht zu Ende, sie haben sich überlebt. Unsere Studien zeigen: Hauptschulen sind heute, anders als früher, ein Faktor, der zur Verstärkung von Jugendgewalt führt. Außerdem vermitteln sie anders als vor zehn Jahren nicht mehr gute berufliche Perspektiven. Ich glaube, Beckstein und die CSU werden sich langfristig überzeugen lassen. Schließlich sind sie ja kluge Leute.
Welche Rolle spielt die Bundespolitik in diesen Fragen?
Es ist wirklich ärgerlich, dass der Bund sich aus der Bildung hat herausdrängen lassen. Damit fehlen viele Milliarden Euro für die Ganztagsschulen. Dabei liegt es doch auf der Hand: Wir müssen die Nachmittage der Kinder vor dem stundenlangen Computerspielen und Fernsehen retten und an den Schulen in dieser Zeit ein Motto realisieren: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik, Kultur und soziales Lernen.
Machen denn die Familien wirklich so viel falsch?
Wir wissen, dass schlechte familiäre Rahmenbedingungen die Kriminalitätsrate nach oben treiben. Die innerfamiliäre Gewalt ist beispielsweise in türkischen Familien ein zentrales Problem. Aber da darf es keine Tabus geben, so etwas öffentlich anzusprechen. Ich freue mich deshalb, dass wir hier mit der türkischen Zeitung Hürriyet eng zusammenarbeiten, die eine großartige Kampagne gegen innerfamiliäre Gewalt organisiert hat. Aber unsere Zahlen zeigen auch, dass wir in einem anderen Bereich ansetzen müssen: bei der Integration im Kindergarten. Wenn der Mehmet im Sandkasten mit Max und Moritz spielt, lernt er die Sprache und wächst in neue Freundschaften hinein.
Dem jugendlichen Mehmet, der mit 16 schon mehrfach straffällig geworden ist, hilft diese Erkenntnis nicht viel.
Auch wenn die Reintegration eines solchen Jugendlichen in die Gesellschaft immer schwierig ist - in meinen Augen ist kein Jugendlicher verloren. Und gerade Deutschland mit seinem demografischen Wandel kann es sich nicht leisten, auch nur einen Jugendlichen aufzugeben.
Fürchten Sie nicht, dass das Thema Jugendgewalt wieder im Wahlkampf missbraucht wird, wenn es wieder zu einer spektakulären Straftat wie in der Münchner U-Bahn kommt?
Die Hessenwahl hat doch gezeigt, wo man landet, wenn man dieses Thema überstrapaziert. Aber über eines müssen wir uns schon im Klaren sein: In der Jugendszene entwickelt sich immer mehr eine Gewinner-Verlierer-Kultur. Dem können wir am besten entgegenwirken, wenn wir den von Armut Betroffenen optimale Bildungschancen eröffnen.
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