Kriegsflüchtlinge in Berlin: Molotowcocktail voller Emotionen

Menschen fliehen vor dem Krieg. Sie verdienen Empathie. Unsere Autorin aber erzürnt, dass der Umgang mit nichtweißen Geflüchteten eindeutig rauer ist.

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gehen am Hauptbahnhof Berlin zum Zelt der Berliner Stadtmission, das als Erstanlaufstelle für Geflüchtete dient

Es werden immer mehr, die Hilfe in Berlin suchen; vor allem kommen Frauen und Kinder Foto: dpa/Annette Riedl

„Helfen Sie, bitte, Luft, Luft“, sagt die Frau radebrechend. Eigentlich meint sie Lift, also Fahrstuhl, so sehr sie auch nach Atem ringt. Eine Mutter unterwegs. Rund 35 Jahre alt, aber hart auf die 50 zugehend. Ihre Stirn ist mit tiefen Furchen versehen. Mit einer Hand schiebt sie einen Kinderwagen. Im Schlepptau hat sie ihre sprichwörtlichen Siebensachen. Was nicht in den zum Bersten vollen Trolleykoffer mit dem lädierten Rädchen hineinpasste, trägt sie im Rucksack.

Hochbetrieb am Hauptbahnhof. Emporgestreckte Plakate mit kyrillischer Schrift, eine krächzende Kakofonie von Durchsagen. Vor lauter Menschen ist der Bahnsteig kaum zu sehen. Die Mutter und ich stehen einander im Weg. Ihre Stimme, die bühnenreife Verzweiflung kundtut, löst bei mir gewisse Reflexe aus.

Ich, gerade aus einem umgeleiteten ICE ausgestiegen, ertappe mich dabei, nach meinem Laptop und anderen Wertsachen zu tasten. Ja, auch Schwarze beherrschen Racial Profiling. Allerdings ist die Mutter weder eine Bettlerin noch eine Betrügerin. Wie denn auch? Sie hat blondes Haar und blaue Augen. Laut Mainstream-Medien geht von solchen Menschen keine Gefahr aus.

Sie ist mit dem aus Krakau eingetroffenen Intercity gekommen. Noch vor einem Monat habe sie als Sekretärin in Lwiw gearbeitet, bis russische Raketen ihr Bürogebäude in Brand gesetzt hätten, erzählt sie. Ihr Mann sei holterdiepolter einberufen worden. Ich lotse sie durch das Chaos, bis zwei Studentinnen, deren Westen mit blau-gelben Flaggen versehen sind, uns entgegenkommen.

Sie stehen sich die Beine in den Bauch

Knapp fünf Minuten später sitze ich in der Premium-Lounge der DB. Tapetenwechsel mit Teppichboden und Ohrensessel, Panoramablick auf Spree und Regierungsviertel. Auf dem Washingtonplatz, unmittelbar vor meiner Nase, greift neuerdings ein Zeltlager um sich, und ebenda bewegt sich alles im Schneckentempo. Geflüchtete, die kurz zuvor noch in Lohn und Brot standen, stehen sich nun die Beine in den Bauch, damit sie, meist Frauen, und ihre Kinder versorgt werden können.

Während ich die Willkommenskultur begutachte, nippe ich an einem Molotowcocktail voller Emotionen. Klar, diese Menschen verdienen bedingungslos unsere Empathie, ihnen sollen Unterkünfte und Überweisungen zuteil werden. Aber es erzürnt mich, dass der Umgang mit nichtweißen Geflüchteten eindeutig rauer ist. Af­gha­n*in­nen werden erbarmungslos im Stich gelassen. Afri­ka­ne­r*in­nen ertrinken vor den Traumstränden des Mittelmeeres und erfrieren an der Ostgrenze der Nato.

„Während ich die Willkommenskultur begutachte, nippe ich an einem Molotowcocktail voller Emotionen“

Kein Problem hat Deutschland damit, dass auf der Museumsinsel zigtausend Schädel aus dem „Schwarzen Kontinent“ lagern. Die deutsche Kolonialgeschichte ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Denn weiße Leben zählen, und zwar überall und über alles. Die Würdelosigkeit dieser Menschenverachtung ist unfassbar. Und wenn wir BIPoC auf diese eklatante Diskrepanz hinweisen, wirft man uns vor, undankbar oder gar rassistisch zu sein.

Meine beiden Omas, meine Mutter und meine Tanten, allesamt Black Women, haben von den USA aus Dutzende Care-Pakete nach Deutschland verschickt, obwohl ihre Männer wenige Jahre zuvor durch Flak und Panzerfäuste der Wehrmacht unter Beschuss genommen worden waren. Wir nahmen an der Berliner Luftbrücke teil, ein Schwarzer Cousin schob Wache am Checkpoint Charlie, als ich 1961 geboren wurde.

Wir „Multikultis“ können Multitasking

Übrigens: Ein amerikanischer Journalist namens Terrell Jermaine Starr chauffiert Ukrai­ne­r*in­nen durch Kampfgebiete in Richtung Sicherheit. Starr ist Schwarz. Wir „Multikultis“ können also Multitasking. Wir meckern nicht nur, wir packen an.

Seit Montag finden die Internationalen Wochen gegen Rassismus statt. Wäre das nicht eine ideale Gelegenheit, Menschen in Not gleichberechtigt zu behandeln? Ja, es wird enger, dafür rückt man zusammen.

Das erinnert mich an meine Kindheit. Wenn wir Besuch zum Essen hatten, wurde ich in den Keller geschickt, um die Tischverlängerung zu holen. Es gibt genug Platz für unerwartete Gäs­te*innen in der Not. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, dass niemand an den Tischbeinen der Toleranz sägt.

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Michaela Dudley (Jg. 1961), eine Berliner trans* Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, ist eine „Frau ohne Menstruationshintergrund, aber mit Herzblut, in der Regel“. So lautet ihr Signatur-Lied, und so kennt man sie als wortgewandte taz-Kolumnistin. Sie ist Autorin des Februar 2022 erschienenen Buches RACE RELATIONS: ESSAYS ÜBER RASSISMUS (Verlag GrünerSinn: ISBN 9783946625612). Ebenjene historisch fundierte Einführung reüssiert als lyrischer Leitfaden zum Antirassismus. Dudley, eine gelernte Juristin (Juris Doctor, US) schreibt auch für den Tagesspiegel, die Siegessäule, die Zeit / das Goethe, Missy Magazine, Rosa Mag und den Verlag GrünerSinn. Zudem tritt sie als Kabarettistin, Keynote-Rednerin und Diversity-Expertin in Erscheinung. Ihr Themenspektrum umfasst Anti-Rassismus, Feminismus und die Bedürfnisse der LGBTQ-Community. Elegant und eloquent, reüssiert die intersektional agierende Aktivistin als die „Diva in Diversity“. Als impulsgebende Referentin arbeitet sie mit der Deutschen Bahn, der Führungsakademie der Bundesagentur für Arbeit, der Frankfurter Buchmesse und dem Goethe-Institut zusammen. In der Fernsehsendung „Kulturzeit“ (3Sat/ZDF, 25.08.2020) hat sie ihre Ballade „Owed to Marsha“ zu Ehren der queeren Ikone Marsha P. Johnson uraufgeführt. In einer anderen Folge (17.06.2020) hatte sie für die „Meinungsverantwortung“ plädiert, als sie die Äußerungen der Schriftstellerin J.K. Rowling in puncto Transsexualität kritisierte. Immer wiederkehrend kommentiert sie brandaktuelle Themen (ARD, MDR, RBB, WDR). Ihr satirisches, musikalisch untermaltes Kabarettprogramm heißt: „Eine eingefleischt vegane Domina zieht vom Leder“. Sie liebt die Astrophysik, spielt gerne Schach, spricht u.a. Latein und lebt tatsächlich vegan. Ihre Devise: „Diversity ist nicht einfach, sondern mehrfach schön. Kein Irrgarten, sondern ein Wir-Garten.“

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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