Kriegsdienst in Israel: Verteidigung als moralische Pflicht
Israels Armee gilt als moralisch gefestigt. Viele Jugendliche wollen mit dem Dienst an der Waffe dem Land etwas zurückgeben. Wer sich aber widersetzt, hat es schwer.
JAFFA/HAIFA taz Die Wache steht nicht stramm. Der Eingang zu Israels beliebtestem Jugendsender wird von einem jungen Mann kontrolliert: roter Flaumbart, die Hose hängt tief im Schritt, das AK-47-Sturmgewehr liegt auf seinem Stuhl. Wer hier ein und aus geht, trägt Uniform: Radio Galei Zahal ist der Sender der israelischen Armee. Auf den engen Gängen und Treppen schieben sich die Soldaten aneinander vorbei, die Schreibtische sind voller Manuskripte, Ordner, Kaffeetassen. Redaktionelle Betriebsamkeit und gute Laune, wer hier arbeiten darf, ist jung und muss nicht kämpfen.
Die Armee: In den israelischen Streitkräften dienen 168.000 Männer und Frauen, zusätzlich stehen 445.000 Reservisten zur Verfügung. Die Truppe gilt als die schlagkräftigste im Nahen Osten.
Die Verweigerer: Offiziell haben im letzten Jahr 26 Prozent aller wehrfähigen Männer und 43 Prozent der Frauen den Dienst verweigert. Orthodoxe Juden geben dafür religiöse Gründe an, Säkulare verweigern aus Gewissensgründen. Sie protestieren damit gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete. Von ihnen werden viele für Wochen oder Monate inhaftiert, anschließend müssen sie sich vor einem Gewissenskomitee verteidigen.
Die Zivilgesellschaft: In der israelischen Öffentlichkeit wird das Thema heiß diskutiert, seit 2002 ein Hauptmann nach einem Einsatz im Gazastreifen den "Brief der Frontkämpfer" verfasst hat. Inzwischen gibt es zahlreiche militärkritische Initiativen.
Die 18-jährige Shachar ist Kulturreporterin bei Galei Zahal. Den Job beim Armeeradio sieht sie als Sprungbrett, viele prominente Journalisten haben hier ihre Karriere begonnen. Aber das, sagt sie und zupft ihr Uniformhemd straff, sei nicht das Wichtigste. "Ich will meinem Land etwas zurückgeben. Deswegen bin ich hier."
Bei der Musterung lag Shachar unter 64 Punkten. Mit dieser Zahl kann jeder junge Israeli etwas anfangen, sie bedeutet: untauglich als Gefechtssoldatin. Nun dient sie mit dem Mikrofon in der Hand. "Mir wird gesagt, dass ich meine Haare nicht offen tragen darf, wann ich aufzustehen und wie ich mich zu kleiden habe. Das hier ist kein Zeitvertreib." Weil der Sold mickrig ist, geben ihr die Eltern Geld für Essen und Miete. Sie sind stolz, wenn sie ihre Tochter im Radio hören.
Fast alle jüdischen Familien haben zwei Dinge gemeinsam: ihre individuelle Holocaustvergangenheit und die Kriegserfahrung im eigenen Land. Seit der Staatsgründung 1948 sieht sich jede Generation von Feinden umstellt. Viele Israelis steigen nur mit Angst in den Bus, in Gebäuden haben sie stets den Notausgang im Blick. Die Bedrohung ist so gegenwärtig wie der Wille zur Selbstbehauptung. Das Land zu verteidigen gilt als moralische Pflicht. Shachar sagt: "Israel ist für uns Juden der sichere Hafen. Ich liebe mein Land, es ist eine Ehre, ihm zu dienen."
Soldat zu werden hat in der israelischen Gesellschaft den Nimbus des Heroischen. Heute noch werden die Rekruten mit jenem Eid auf den Kampf eingeschworen: "Nie wieder darf Massada fallen!" Er erinnert an die 960 Juden, die 73 nach Christus in der Festung Massada Selbstmord begingen, um nicht den Römern in die Hände zu fallen. Wer diese Entschlossenheit nicht teilen will, wer heute Befehle oder den Wehrdienst in Israel verweigert, hat ein Problem. Auch mit Shachar: "Ich habe eine Freundin, die lieber ein Tanzausbildung macht, als ihre Pflicht zu tun. Das ist sehr schwer - für mich."
Auch Mor Elnekave hat ein Problem. Sein medizinisches Profil lag bei 97 - tauglich für die fiesen Einsätze. Seine Einheit musste 500 jüdische Siedler in der Nähe von Hebron bewachen. "Das war das Sinnloseste, was ich je in meinem Leben getan habe", sagt er heute. Mor sicherte Kontrollpunkte, er fragte nach Ausweispapieren, Passierscheinen und Geschäftslizenzen. Mehr will er nicht erzählen. Aber das Drangsalieren der Palästinenser hat ihn derart angewidert, dass er den nächsten Marschbefehl ins Westjordanland verweigerte. Er wurde degradiert und zu einem Monat Militärgefängnis verurteilt.
Gleich nach seinem Eintritt in die Armee hatte bei ihm das Umdenken eingesetzt. "Wenn du das Gewehr in die Hand nimmst, musst du mit den Zielen der Armee einverstanden sein. Ich war das nicht", erinnert er sich. Die Bestrafung schreckte ihn nicht ab. Wäre es hart auf hart gekommen, hätte er die restliche Zeit - Männer müssen 36, Frauen 21 Monate zum Militär - hinter Gittern verbracht. Größere Angst hatte er vor den gesellschaftlichen Sanktionen: "Absolut jeder fragt dich bei einem Einstellungsgespräch nach Einheit und Einsatzort. Du bekommst keinen guten Job, wenn du dich da ausgeklinkt hast."
Tatsächlich war kürzlich in Israels Unternehmen eine Petition im Umlauf, die Personalchefs auffordert, keine Befehls- oder Kriegsdienstverweigerer einzustellen. Öffentliche Stellen sind für die sogenannten Refusniks ohnehin tabu. Im letzten Herbst soll vom Büro des Premierministers eine schwarze Liste mit Namen von Künstlern an Behörden gegangen sein. Wer darauf stand, sollte bei offiziellen Feiern nicht mehr engagiert werden. So sollen unliebsame Vorbilder aus dem Verkehr gezogen werden.
Eine gesellschaftliche Ächtung als Paria, als Vaterlandsverräter, ist nach Meinung von Soziologen der Universität Haifa Geschichte. Fragt man aber Mor und andere junge Israelis, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Geschwister reden nicht mehr miteinander, Schulfreunde wechseln die Straßenseite, Eltern verstehen die Welt nicht mehr.
Auch der Vater von Tsoof Yovel versteht seine Tochter nicht mehr. Seiner Auffassung nach hat sie sich vor ihrer Pflicht gedrückt. Sie sieht es so, dass sie als israelische Soldatin nicht Teil einer Besatzungsmacht sein wollte. Die Sache liegt schon ein paar Jahre zurück, aber zwischen Tsoof und ihren Eltern ist durch ihre Entscheidung etwas kaputtgegangen. "Was tust du für die Gemeinschaft?", fragt ihr Vater. Immer wieder.
Tsoof ist im Kibbuz Ramat Yohanan aufgewachsen, im Norden von Israel. Als kleines Mädchen konnte sie dort stundenlang durch die Natur spazieren. Das Barfußgehen hat sie geliebt, es war eine unbeschwerte Zeit. Tsoof ist jetzt 25 Jahre alt, in ihren langen blonden Haaren sieht man graue Strähnen. Sie hat ihre Mitte schon lange verloren.
"Ich war drei Jahre alt", erzählt sie. "Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber es passte nicht ins Konzept." Irgendetwas in ihrem Verhalten, vielleicht eine trotzige Antwort, zog den Groll der Erzieherinnen auf sie. Erziehung war Sache des Kibbuz-Kindergartens, alle Eltern gaben die Verantwortung an das Kollektiv weiter. "Als die Kinder zum Essen gingen, wurde ich mittags wochenlang auf der Toilette eingesperrt. Und wenn wir freitags Plätzchen für den Sabbat gebacken haben, durften alle Kinder sie mitnehmen und den Eltern schenken. Ich musste sie abgeben." Vater und Mutter konnten ihr das auch nicht erklären.
Das Gefühl ständiger Kontrolle durch die Gemeinschaft machte aus dem lebenslustigen Mädchen eine Einzelgängerin. Als Teenagerin habe sie nichts mehr gefürchtet als die "Kibbuz-News", das Gerede. Jeder im Dorf war stets bestens über unbotmäßiges Verhalten der anderen informiert.
In dieser Zeit wuchs bei Tsoof die tiefe Abneigung gegen das, was ihr Vater Gemeinschaft nennt. Und gegen "große Ideen": "Ich muss meinem Land nichts zurückgeben", sagt sie heute, "meine Eltern haben mich auf die Welt gebracht, nicht der Staat."
Für den Musterungstermin vor ein paar Jahren hatte Tsoof sich die Haare gefärbt und die Fingernägel rot lackiert, sie spielte die Hippiebraut, die Außenseiterin. Sie verabscheute sich für das Theater. "Es war lächerlich, und sie haben mir natürlich nicht geglaubt." Bei der zweiten Vorladung ging sie fest davon aus, sofort in die Kaserne nach abtransportiert zu werden. "Sie wollten mich kleinkriegen. Sie stellten hirnrissige Fragen: Wie sehr ich Tiere liebe, warum ich mir die Haare nicht schneiden lassen will. Es war demütigend." Das Komitee drohte ihr mit Haft, beleidigte sie als Egoistin und versuchte an Tsoofs Gewissen zu appellieren. Schließlich sagte sie: "Egal, was Sie fordern, ich werde es verweigern. Ich werde mich hier auf den Boden setzen und nicht diesen Bus besteigen."
In der Paragrafensprache der Streitkräfte ist Tsoof heute Pazifistin. "Ich bin keine Pazifistin", sagt sie. "Aber es gibt in deren Verständnis nur diesen Status. Ich weiß, dass Israel Feinde hat und dass wir im Krieg leben. Aber meine Angst, wieder nur ein Teil irgendeiner Idee zu sein, ist größer als die Angst vor Bomben."
Wie alle anderen Bewohner muss sie im Kibbuz einen gemeinnützigen Dienst übernehmen. Sie hat sich für die Arbeit in ihrem alten Kindergarten entschieden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Amnesty-Bericht zum Gazakrieg
Die deutsche Mitschuld
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Nach Recherchen zum Klaasohm-Fest
Ab jetzt Party ohne Prügel
Debatte um Bezahlkarte
Hundegulasch und Auslandsüberweisungen
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht