Krieg in der Ukraine: Bei der EU fallen die Tabus
Waffenlieferungen an die Ukraine, harte Sanktionen und Einschränkung von russischen Staatsmedien – nach der Invasion ist bei der EU vieles möglich.
Sogar ein EU-Beitritt der Ukraine ist im Gespräch. „Wir wenden uns an die EU zur unverzüglichen Aufnahme der Ukraine nach einer neuen speziellen Prozedur“, sagte Präsident Wolodimir Selenski. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich offen dafür. „Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns. Sie sind einer von uns, und wir wollen sie drin haben“, sagte sie. Ein Beitrittsversprechen ist dies zwar noch nicht, die Ukraine ist kein offizieller EU-Kandidat.
Ukraine bekommt, was sie braucht
Selenski will nicht lockerlassen. „Ich bin überzeugt, dass wir das verdient haben.“ In Brüssel würde derzeit niemand widersprechen. Seit Kriegsbeginn wird Selenski wie ein Freund in Not behandelt. Die Ukraine bekommt alles, was sie braucht. „Wir erleben einen Paradigmenwechsel“, sagte von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer. „Europa verteidigt die Ukraine, wir stehen an ihrer Seite“, beteuerte er auf Englisch und Ukrainisch.
„Man sollte nicht zu oft von historischen Entscheidungen sprechen“, meint der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. „Aber wir haben auf eine Art und Weise reagiert, die sowohl die Europäer als auch die Russen überrascht hat.“
Spektakulär ist auch die Wende in der Verteidigungspolitik. Noch beim Krisengipfel am Donnerstag sperrten sich Deutschland und andere EU-Länder gegen Waffen für die Ukraine. Nach der Kehrtwende in Berlin sind in Brüssel alle Tabus gefallen. Am Sonntag beschlossen die EU-Außenminister, darunter die deutsche Ressortchefin Annalena Baerbock, die Lieferung von Kriegswaffen.
Ausgerechnet aus der neuen „Friedensfazilität“ sollen bis zu 450 Millionen Euro für „letale“ Waffen und weitere 50 Millionen Euro für anderes Kriegsgerät bereitgestellt werden. Die Verteidigungsminister stimmten zu. Die Friedensfazilität war 2020 unter deutschem EU-Vorsitz geschaffen worden, um Friedensmissionen etwa in Afrika auszurüsten. Nun sollen aus dem bis zu 5,7 Milliarden Euro schweren Topf Kampfjets beschafft werden.
Außenministerin Annalena Baerbock
„Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir so etwas tun“, so Borrell. Das Kriegsmaterial soll über Polen in die Ukraine geschafft werden. Russland sprach von einer Provokation. Die Waffenlieferungen seien gefährlich und destabilisierend, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) widersprach: „Die EU ist ein Friedensprojekt.“ Die Waffenlieferung sei Ausdruck der „europäischen Souveränität“.
Frappierend ist auch die neue Sanktionspolitik. Beim EU-Gipfel hatte sich die Bundesregierung gegen zu harte Strafen für den russischen Finanzsektor ausgesprochen. Nun wurde ein Maßnahmenpaket verabschiedet, das nach Einschätzung des britischen Finanzexperten Adam Tooze einem „vollumfänglichen Finanzkrieg“ gleichkommt. „Das wird Russland ruinieren“, sagte Außenministerin Baerbock.
Plötzlich kann die EU nicht nur Verteidigung, sie übt sich auch in Vergeltung. Erstmals wagt sie sich auf das Gebiet der Medienpolitik vor – mit einer umstrittenen Zensurmaßnahme gegen die russischen Staatssender RT und Sputnik. Allerdings ist die EU für die Zulassung dieser Sender gar nicht zuständig. Deshalb ist unklar, ob und wie sie gesperrt werden können. Man sei im Gespräch mit Online-Plattformen wie YouTube.
Und die EU sperrte den Luftraum für russische Flugzeuge. Moskau sperrte im Gegenzug den Überflug für 36 Länder, darunter Deutschland. Alle „restriktiven Maßnahmen“ wurden einstimmig beschlossen. Selten sei die EU so einig gewesen. Die russische Aggression schweiße die Europäer zusammen. Nur in einem Bereich fehlt das EU-Engagement: bei den Friedensbemühungen. Zwar gab es am Montag erste Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Die EU war nicht vertreten; sie würdigte die Verhandlungen mit keinem Wort.
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