Krieg in der Ukraine: Ohne Pass und ohne Perspektive
Es sind nicht nur Ukrainer, die flüchten. Naveed lebte in Charkiw und Fatemas Familie flüchtete nach Ternopil. Alle sind aus Kabul und stecken nun fest.
Während des Gesprächs sitzt Naveed auf einem Feldbett mitten im Getümmel aus Helfern und Geflüchteten. In einer Halle des Handels- und Einkaufszentrums „Dolina“, acht Kilometer vom Grenzübergang Korzcowa entfernt, wurde eine provisorische Unterkunft eingerichtet. Mehr als 500 Menschen können hier vorübergehend eine Bleibe finden.
Neben Naveed sitzen zwei junge Frauen, eine davon eingewickelt in einer dicken Decke. Trotz der vielen Menschen ist es relativ kühl in dem Gebäude, das bis vor wenigen Tagen bis auf einen Supermarkt im hintersten Teil völlig leer stand. Nebenan im Flur hat sich eine Menschentraube gebildet. An einem kleinen Tisch sitzen zwei usbekische Konsulatsmitarbeiter und registrieren ihre Landsleute, damit sie zügig per Bus nach Warschau und weiter in die Heimat reisen können.
Krieg ist überall Krieg
Für Naveed und seine Familie gibt es keine so einfache Lösung. Noch weiß er nicht weiter. Ob es einen Unterschied zwischen der Flucht aus Afghanistan und der Flucht aus der Ukraine gegeben habe? Er muss nicht lange überlegen. „Es gibt keinen Unterschied“, sagt er. „Der einzige Unterschied ist, dass es ein anderes Land ist. Der Krieg hier ist wie Krieg dort.“ Die Angst sei dieselbe und die Gefahr auch. Und noch eine Gemeinsamkeit gebe es: „Ich habe beide Male meine Heimat verloren. Es war dasselbe Gefühl, als ich das Land verlassen habe.“
Auch wenn er noch keine konkrete Perspektive hat, Naveed ist jedenfalls im sicheren Polen. Für die Familie von Fatema Hosseini sieht es ganz anders aus. Die afghanische Journalistin hat nach der Machtübernahme der Taliban ihre Heimat verlassen. Sie wurde in die USA evakuiert und hält sich heute dort auf. Am Telefon sagt sie: „Ich wollte nicht alleine gehen. Ich wusste, dass mein Vater gefährdeter ist als ich, weil er elf Jahre lang für das afghanische Militär gearbeitet hat.“
Ihr damaliger Arbeitgeber drängte sie, Schutz in der Ukraine zu suchen. Ihre Familie, die Eltern, der 18-jährige Bruder und die zweijährige Schwester, durfte eine Woche später folgen. Dann begann das Chaos. Denn Fatemas Schwester lebte zu diesem Zeitpunkt bereits länger in Kanada. Sie wollten alle dorthin. Das Land schien der bessere Ort zu sein als die Ukraine. Alles war vorbereitet, sie hatten sogar eine Wohnung. Alles sah gut aus. Doch dann kam die finale Zusage doch nicht.
Gefangen in Bürokratie
Fatema Hosseini erzählt: „Es hieß, wir hätten einen Fragebogen per Mail bekommen und noch nicht beantwortet. Aber es gab keine Mail.“ Einen Monat habe es gedauert, bis die Mail auf mehrere Nachfragen hin dann doch endlich eingetrudelt sei. Es habe sich um Nachfragen zu ihrem Vater gehandelt, was genau dieser beim Militär getan habe, ob er Menschen getötet habe.
„Zum Glück hat er das nie“, sagt Hosseini. Eigentlich sollte damit der Ausreise nichts mehr im Weg stehen. Nur noch zwei Wochen Bearbeitungszeit lagen vor der Familie. Und dann brach der Krieg aus. Die Familie sitzt nun in Ternopil fest, rund fünf Stunden mit dem Bus von der Grenze. Das heißt, wenn überhaupt noch einer fährt. Und ihre Pässe liegen auf dem „Migration Office“ in der Kanadischen Botschaft in Kiew.
Fatema Hosseini sucht einen Weg, ihre Familie aus der Ukraine zu holen. „Kanada fühlt sich nicht zuständig“, klagt sie. „Sie sagten mir an der Notfallnummer der Botschaft, sie könnten nichts tun, da meine Familie keinen Aufenthaltstitel für Kanada hat.“ Hosseini ist ratlos. „Und dann sagten sie mir, eigentlich seien sie nur für kanadische Staatsbürger verantwortlich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen