piwik no script img

Krieg in KolumbienLernen, mit der Mine zu leben

Die Leute aus der Region Cauca lehnen die Kriegsparteien ab. Sie wollen neutral sein. Ihre Felder und Schulwege werden trotzdem rücksichtslos vermint, Schulen als Kasernen genutzt.

Der Krieg zwischen der Regierungsarmee und der Guerillaorganisation Farc dauert seit über 60 Jahren. Bild: dpa

osé Daniel Quigu hat Glück gehabt. Fast wäre er auf den tellergroßen Gegenstand getreten, der vor ihm auf dem schmalen Fußweg lag. José war auf dem Weg zur Schule. Zwanzig Minuten braucht er von dem Weiler aus drei Häusern, in dem er mit seinen Eltern wohnt, bis zur Grund- und Hauptschule in Buenavista. So heißt schöne Aussicht auf Spanisch, es liegt in der kolumbianischen Region Cauca.

"In der Schule hatten sie uns Fotos gezeigt, und so wusste ich, dass es eine Mine war. Ich bin langsam rückwärtsgegangen und dann auf einem anderen Weg zur Schule gelaufen." Der Zehnjährige und die Leiterin der Schule, Adalid Ruiz Pino, markierten später gemeinsam den Fundort. Dann informierten sie die Guardia Indígena, die im Gebiet der Nassa-Indios für die Sicherheit zuständig ist. Mitglieder der Guardia entfernten die selbst gebaute Antipersonenminen der Guerilla.

Kolumbien

Das Land: 45,3 Millionen Einwohner hat Kolumbien, davon leben nach Angaben der Weltbank fast 50 Prozent in Armut, sieben Prozent haben Einkommen von weniger als 60 Cent am Tag.

Der Krieg: Bereits seit Mitte der 40er-Jahre gibt es in Kolumbien einen internen kriegerischen Konflikt. Protagonisten sind heute neben der kolumbianischen Armee und der mit ihr indirekt verbundenen paramilitärischen Gruppierungen die Guerillagruppen Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia/Ejército del Pueblo (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens/Volksarmee, Farc) und das Ejército de Liberación Nacional (Nationale Befreiungsarmee, ELN).

Die Opfer: Nach inoffiziellen Schätzungen hat der militärische Konflikt vier Millionen Menschen gezwungen, vor allem die ländlichen Regionen zu verlassen. Die wenigsten sind als Flüchtlinge staatlich anerkannt, sie erhalten somit keine Unterstützung und sind auf die Hilfe ausländischer Organisationen angewiesen. Kolumbien ist derzeit das Land mit den meisten Minenopfern, durchschnittlich mehr als drei pro Tag.

Neben dem Micro Centro Educativo Rural Mixto spielen fünf Mädchen und sieben Jungen laut lachend Fußball. Ein Mädchen grätscht nicht gerade fair dem angreifenden Spieler in die Beine. "Dort hinten in der Ecke haben wir Munition gefunden." Mit der Hand zeigt Schulleiterin Ruiz Pino auf ein Gebüsch.

Vor einem Jahr lag plötzlich das durchdringende Dröhnen von Rotorblättern über der Schule. Dann spuckten Hubschrauber im Minutentakt Soldaten der kolumbianischen Armee aus. Als die Helikopter nach zwei Tagen, in denen die Armeeangehörigen - obwohl gesetzlich verboten - auf dem Schulgelände kampiert hatten und kein Schulunterricht stattfinden konnte, wiederkamen, um die Eliteeinheit abzuholen, blieb am Spielfeldrand Gewehrmunition zurück. "Unverantwortlich. Sie bringen die Kinder damit in Gefahr", sagt Adalid Ruiz Pino.

Acht Personen, darunter drei Kinder, sind in den letzten Jahren in der Region mit seinen verstreut liegenden Dörfchen Opfer von Minen geworden. "Mein Bruder hat so ein Ding beim Spielen gefunden, und dann haben er und ein paar Freunde es zu Hause auseinandergenommen", erzählt Luz Adriana. "Es ist nichts passiert." Heute weiß die Zwölfjährige wie leichtsinnig ihr damals 14 Jahre alter Bruder Juan sein Leben und das der gesamten Familie aufs Spiel gesetzt hat. "Er würde es auch nicht wieder tun", sagt Luz Adriana.

Die Farc-Guerilla, die in dieser Bergregion das Sagen hat, nutzt Buenavista immer wieder für Angriffe auf die nahe gelegene Bezirkshauptstadt Turibio. Minen, Granaten und Gewehrmunition bleiben da nach Kämpfen manchmal zurück. "Wir sind schließlich im Krieg", habe ihr ein Guerillakommandant lapidar erklärt, erzählt die Schuldirektorin Ruiz Pino. Der Chef einer Armeeeinheit habe Ähnliches kundgetan. Die Bevölkerung der Region - meist zur Ethnie der Nassa gehörend - sind im Kampf um Einfluss und strategischen Geländegewinn mal Statisten, mal Spielball.

Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass die Nassa sich als Friedensgemeinden konstituiert haben. Und den Konfliktparteien - den Fuerzas Armadas Revolucionario de Columbia (Farc) und dem Ejército de Liberación Nacional (ELN) auf der einen Seite sowie den paramilitärischen Gruppen und der Armee auf der anderen Seite - den Zutritt zu ihrem Siedlungsgebieten verboten haben. Formal, denn keine der Kampfparteien respektiert dieses Verbot.

"Wir fühlen uns wie zwischen Baum und Borke", klagt Mauricio Casso, der 33 Jahre alte Koordinator der Asociación de Cabildos Indígenas del Norte del Cauca (Acin), der Vereinigung der indigenen Bürgermeister. Für die Guerilla ist die Bevölkerung Zuträger der Armee. Auch beim Besuch drückt sich ein junger Mann mit Gummistiefeln immer wieder in der Nähe der Besucher herum. Amigos nennen die Bauern die jungen Leute, die für die Guerilla die Aufklärungsarbeit machen und Augen sowie Ohren offen halten. Trotzdem nimmt hier niemand ein Blatt vor den Mund bei der Kritik daran, dass die Guerilla Antipersonenminen benutzt, deren Opfer immer wieder die Bauern werden.

Und bei der Armee und den paras gelten die Nassa mit ihren Selbstverwaltungsideen und Gemeinschaftsprojekten zur Gemeindeversorgung als potenzielle Parteigänger der Aufständischen. "Wir wollen mit beiden nichts zu tun haben, weil sie unsere Kultur und unser Territorium nicht respektieren. Sie setzen sich über unsere Selbstverwaltung hinweg", sagt Casso.

Die Situation der Nassa ist alles andere als rosig. Die europäisch orientierten Gesellschaftsvorstellungen Kolumbiens haben die traditionellen Kollektivstrukturen der Nassa zerstört, der bewaffnete Konflikt, der Ende der 1940er-Jahre ausbrach, hat sie aus vielen ihrer Siedlungsgebiete vertrieben. "Immer wieder sind Nassa Opfer von Schusswechseln, die Schulen werden als Kasernen missbraucht, unsere Felder sind vermint", versichert Casso. "Die Macht der Waffen ist stärker als unsere Friedfertigkeit."

3.000 Angehörige der Guardia Indígena versuchen in der Nassa-Region den Gesetzen der Gemeinschaft Respekt zu verschaffen und die Sicherheit der Bewohner zu garantieren. "Wir sind unbewaffnet, und das Symbol unserer Autorität ist lediglich ein Stock", sagt Germán Valencia. Der 39-jährige Bauer koordiniert die Wachen. Seinen fingerdicken Stock hat er mit bunten Fäden und Bändern geschmückt. Einen ähnlichen, wenn auch kleineren Stock tragen José Daniel und Luz Adriana in der Schule in Buenavista. Sie sollen darauf achten, das kein Streit unter den Mitschülern entsteht. Positives Beispiel sollen sie sein, nicht verängstigen.

Im Schulzentrum von Buenavista steht Alex Milber Orosco Sandoval vor seiner Klasse, zu der auch José Daniel Quigu gehört. An der Tafel ist Packpapier befestigt, auf das die Schülerinnen und Schüler Anhöhen, Flüsse und die Weiler eingezeichnet haben, in denen sie leben. "Wir haben die Karte gemeinsam im Unterricht erstellt", berichtet Sandoval. Mit roten Strichen sind die Schulwege markiert. Sie sind identisch mit den grün gestrichelten Linien. "Die Soldaten und Guerilleros benutzen dieselben Wege wie die Kinder, deshalb besteht auch die größte Gefahr, dass sich dort vergessene oder liegen gelassene Munition oder Minen finden."

Und natürlich werden Wege vermint, wenn sich die Guerilleros vor Armeeangriffen zurückziehen. Über die ganze Karte verteilt sind kleine Bomben und Pistolenkugeln eingezeichnet. "Jede markiert eine Fundstelle", sagt Sandoval. "Die Kinder sind natürlich neugierig, und plötzlich liefen Jungen mit Gewehrgeschossen in der Schule rum." Seit 1990 hat es mehr als 10.500 Minenopfer in Kolumbien gegeben, und das lateinamerikanische Land gehört heute zu den Ländern mit den weltweit meisten Minenopfern. "Aber auch auf den Feldern finden wir immer wieder vergrabene und zurückgelassene Minen und Munition", sagt Lehrer Sandoval.

Der Unterricht von Pädagogen wie Alex Milber Orosco Sandoval und Adalid Ruiz Pino ist Ergebnis eines Projektes der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe. Finanziert von der Abteilung für humanitäre Hilfe der Europäischen Union (Echo) sollen die Lehrer in den Grund- und Hauptschulen der Region über die Gefahren von Antipersonenminen und scharfer Munition ausgebildet werden und Methoden lernen, ihren Schülern dieses Wissen weiterzuvermitteln. "Erdrutsche sind Katastrophen, aber auch verminte Felder und von Kampfhandlungen vernichtete Ernten haben katastrophale Auswirkungen auf die Menschen", sagt Margarita Palacios Vieco, Projektleiterin der Diakonie Katastrophenhilfe. "Wir sind von der direkten Katastrophenhilfe zur Prävention übergegangen."

Zuerst einmal wurden die Lehrer und Mitglieder der Guardia Indígena im Erkennen von Antipersonenminen und noch nicht explodierten Geschossen ausgebildet. Danach ging es um die didaktische Weitervermittlung dieses Wissens an ihre Schüler. "Die Lehrer haben ein eigenes Handbuch für den Unterricht erarbeitet, das in den Schulen der Region benutzt wird", berichtet die 29-jährige Psychologin Palacios.

"Und danach haben wir das im Unterricht umgesetzt, um die Kinder auf die Gefahren aufmerksam zu machen", sagt der 24 Jahre alte Lehrer Sandoval. Sie sollen zum Beispiel in Rollenspielen lernen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie auf eine Mine treffen oder munición sin explotar, nicht explodierte Munition, finden.

"Nuestro futuro es hoy", unsere Zukunft ist heute, steht auf einer Holzwand vor der Schule. Davor haben sich acht Mädchen und Jungen aufgestellt. "Bleib auf dem Weg, renn nicht einfach über dir nicht bekannte Felder, und vor allem heb keine Sachen auf, die du nicht kennst", warnt der Schulchor die Mitschüler in dem Lied über die Gefährlichkeit von von Munition und Antipersonenminen. An den Schulwänden kleben kleine Abziehbilder, auf denen Verhaltensvorschläge im Falle eines Minenfunds gezeichnet sind: "Pass auf, Minen bedrohen unser Leben."

Zum Unterrichtsschluss gibt es Selbstgedichtetes der Schülerinnen und Schüler. "Wenn du etwas Unbekanntes siehst, fass es nicht einfach an. Es könnte explodieren", deklamiert ein kleiner Junge vor der Klasse der Zehnjährigen. Ein kleines Mädchen rezitiert verlegen: "Weiche nicht vom Weg ab, denn sonst könntest du auf etwas treten, das deine Beine verletzt. Pass auf, Minen können dich lebenslang entstellen." Die Kinder seien vorsichtiger geworden, findet Orosco Sandoval. "Hier wenigstens hatten wir seitdem keine tödlichen Opfer mehr zu beklagen."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!