Kreuzberg: Eine Frage der Perspektive
Ein Wohnprojekt für Obdachlose bietet besondere Praktika an: Führungskräfte erleben eine Woche lang, wie der Alltag in der Sozialarbeit aussieht.
In Wohngemeinschaft 4 stapeln sich Hausrat, halbleere Aschenbecher und leere Bierflaschen. Aber nicht mehr lange, denn heute ist Putztag im Kreuzberger Obdachlosen-Wohnprojekt Nostitzstraße. Praktikantin Gerlinde König ficht das Durcheinander nicht an: Beherzt steigt sie über zwei Müllsäcke und bahnt sich den Weg durch den Aufräumtrupp zu Bewohner Siggi. Blutdruck messen, kurz Hallo sagen. Die übliche Morgenrunde. „Ach, schönet Gefühl“, seufzt Siggi. Siggi mag Blutdruckmessen – „die Manschette ist so schön kühl“ – und er mag Gerlinde König. Fest drückt er ihre Hand, dabei ist es erst ihr zweiter Praktikumstag.
In Kontakt kommen
Eigentlich ist König keine Praktikantin. Die 61-Jährige ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. „Perspektivwechsel“ heißt das Programm der Obdachlosenarbeit Heilig-Kreuz-Passion in Kreuzberg, das Politikern, Managern und Spitzenfunktionären jeweils eine Woche lang zeigt, wie Sozialarbeit im Alltag aussieht. Ein Versicherungsmanager jobbte schon als Aushilfe in dem Wohnprojekt, einer Art betreutes Wohnen für ältere obdachlose Männer. Einer von Vattenfall war da und auch jemand aus dem Springer-Konzern.
„Mit ’Perspektivwechsel‘ wollen wir gesellschaftliche Gruppen zusammenbringen, die sonst nicht miteinander in Kontakt kommen würden“, sagt Projektleiter Werner Neske, der sich mit einem kleinen Team aus größtenteils ehrenamtlichen Helfern um derzeit knapp 50 Bewohner kümmert.
Gemeinsam mit Krankenschwester Eva Wolf stellt Gerlinde, wie sie die Bewohner nennen, Tabletten zusammen. Einem Bewohner holt sie ein Glas Wasser, zündet dem anderen eine Zigarette an, hört dem ehemaligen Straßenmusiker Andi beim Gitarrespielen zu. Berührungsängste habe sie keine gehabt, sagt König. Aber manche der Lebensgeschichten, die sie nebenbei erfahren hat, hätten sie schon nachdenklich werden lassen.
Kein Schnaps mehr
Manfred etwa aus WG Nummer drei, der soff, bis ihm irgendwann die Frau weglief. „Da bin ich auch einfach gelaufen, immer weiter durch die Stadt“, sagt er. Inzwischen hat er, nach Jahren auf der Straße, ein WG-Zimmer in der Nostitzstraße. Er trinke nur noch zwei Bier am Tag, sagt Manfred, „und Schnaps gar nicht mehr.“
Manfred, Andi und die anderen, sagt König, hätten ihr klar gemacht, „wie viel Glück man doch eigentlich selber hatte mit dem Schicksal, was für ein privilegiertes Leben man führt“. Da würden manche Probleme auf der Arbeit, im Büro, mit einem Mal sehr klein. Eine gewisse Gelassenheit, sagt König, das sei es wohl vor allem, was sie aus der Praktikumswoche mit zurück an ihren Schreibtisch in der Vorstandsetage nehmen wolle.
Der kleine Perspektivwechsel in der Nostitzstraße tut freilich nicht nur der überreizten Funktionärsseele gut. Denn nach der Praktikumswoche werden aus den kostenlosen Händchenhaltern und Pflege-Assistenzen potenzielle Sponsoren. Das Obdachlosen-Wohnprojekt bekommt zwar Mittel von den Bezirksämtern, ist aber außerdem auf Spenden und private Fördergelder angewiesen. Nur so könne man die ohnehin dünne Personaldecke und damit die Leistungen für die Bewohner – medizinische Betreuung, Freizeitangebote, Geburtstagsfeiern – aufrechterhalten, sagt Neske.
Aber was an anonymen Geldgeschenken auf dem Spendenkonto eintröpfle, reiche einfach nicht, gibt der Sozialarbeiter zu bedenken. Da sind die Ex-Praktikanten die bessere Investition. Die haben mit ihren Arbeitgebern nicht nur deutlich mehr Finanzkapital hinter sich als der Privatmann mit seinem Sparbuch, sie haben auch ein Interesse daran, es einzusetzen. Schließlich ist gesellschaftliches Engagement immer auch PR in eigener Sache. Eine Win-win-Situation für das Wohnheim und die Firmen. „Es funktioniert“, sagt Werner Neske.
Als ein „Prestigeprojekt“ will Gerlinde König ihr Praktikum aber nicht verstanden wissen. Im Vordergrund stehe die „aufregende Erfahrung“ an sich. Und wenn in der kommenden Woche wieder vorbei ist? Dann, hat König schon überlegt, werde sie mal schauen, ob es nicht einen Weg gebe, bestimmte Pflegeversicherungsleistungen, die das Obdachlosenprojekt derzeit selber tragen muss – die Medikamentengabe durch die Krankenschwester etwa –, vom Amt zahlen zu lassen. Bis dahin hilft sie eben selbst aus.
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