Krautrocker "Harmonia" in Berlin: Im tiefsten deutschen Forst
Nach 30 Jahren tritt die Krautrock-Band Harmonia wieder auf. Mit elektronischen Experimenten und dem Verzicht auf Blues-Einfluss bereitete sie einst die Zukunft vor.
"Die Musik von Harmonia ist für mich die einzig wahre Musik. Es ist die Musik, der die Zukunft gehört", schwärmte Brian Eno, als er 1974 das Debütalbum der Gruppe hörte. "Musik von Harmonia" besaß keine der Komponenten, die die Popmusik damals ausmachten: keinen Rock, keinen Blues, keine Songs. Harmonia war anders. Die Gruppe entwarf eine neue Klangwelt, in der sich elektronische Sounds, repetitive Tonschleifen, weite Melodiebögen und Elektrobeats begegneten. Harmonia waren ein Pionierensemble der elektronischen Musik.
Mit dem Worldtronics-Festival, das von nun an jedes Jahr stattfinden soll, arbeitet das Berliner Haus der Kulturen der Welt an einem neuen Weltmusikbegriff. Die Globalisierung digitaler Kulturtechniken zu präsentieren, haben sich die Macher vorgenommen. Das Eröffnungskonzert werden heute Abend um 20 Uhr Harmonia bestreiten. Die elektronischen Musikszenen von Jerusalem, Kinshasa, Tokio und Santiago de Chile bilden die Schwerpunkte. Zusätzlich zu den Konzerten können zahlreiche Workshops, Gespräche und eine Fachmesse besucht werden. Von Dienstag bis Samstag.
Harmonia ging es wie den anderen Krautrockbands auch. In Deutschland nahm sie kaum jemand wahr, nur im Ausland horchte man auf. Zusammen mit Kraftwerk, Faust, Neu! und Cluster gehörte Harmonia zu der Handvoll von Bands aus der Bundesrepublik, die durch ihre futuristischen Klänge in den Siebzigern der internationalen Popszene wichtige Impulse gaben. 1973 gegründet, hallt der Einfluss von Harmonia bis heute bei jungen Bands und Elektronikern nach - von Triphop bis Ambient und von Aphex Twin bis zu den Secret Machines. Jetzt gibt die legendäre Band erstmals nach 30 Jahren wieder ein Konzert. Anlass ist das Worldtronic-Festival in Berlin.
Dabei wurde der Erstling, der als Paukenschlag gedacht war, zum Flop. Das Medienecho auf die Platte war gering, das Bandprojekt wurde zur Hängepartie. "Das erste Album war kommerziell ein Desaster", erinnert sich Gitarrist Michael Rother. "Der Vorschuss zum Vertrag sicherte für einige Monate das Überleben, weil sich unser Plattenlabel viel von dem Album versprochen hatte. Das ökonomische Überleben blieb schwierig. An Konzerte zu kommen, war harte Arbeit, die Gagen bescheiden. Oft mussten wir selbst als Veranstalter auftreten, weil niemand das Risiko eingehen wollte."
Die Band schrammte für ein paar Jahre knapp an der Pleite vorbei. Da ging man dann im Winter schon ab und zu gemeinsam in den Wald, um Brennholz zu sammeln und umgestürzte Bäume zu zersägen. Das sparte Geld für die Heizung. "Bei allem Enthusiasmus machte die konstante Finanzebbe das Durchhalten und Zusammenleben schwer. Spannungen traten auf. Wenn die Rechnung für die Autoreparatur nicht bezahlt werden konnte, kam man schon etwas ins Grübeln", stellt Rother fest.
Harmonia war 1973 entstanden. Doch war Michael Rother schon zwei Jahre zuvor als Mitglied von Kraftwerk bei einem gemeinsamen Konzert seinen zukünftigen Bandkollegen begegnet. Er war beeindruckt. Nachdem Rother Kraftwerk verlassen hatte und auch mit seiner Nachfolgegruppe Neu! in eine Sackgasse geraten war, erinnerte er sich an Cluster. Er fuhr in die Abgeschiedenheit des Weserberglands, um mit den beiden Elektronikern Dieter Möbius und Hans-Joachim Roedelius zu musizieren. "Wir hausen mit unseren Freundinnen im tiefsten deutschen Forst, in einem einsamen alten Amtshof, Baujahr 1580", hatte Dieter Möbius geschrieben. "Das dreigeschossige Haus kostet 100 DM Miete. Wir haben zwar neuerdings ein Bad, aber geheizt wird noch wie im Mittelalter - mit Holz."
Sechs Wochen nach der ersten Session zog Rother in die Bandkommune ein. Harmonia war geboren. Um besser arbeiten zu können, richtete man im Ziegenstall ein primitives Studio ein. "Wir haben mit vereinten Kräften einen Estrich auf den sandig-lehmigen Fußboden gegossen, die Wände verputzt und Fenster einbauen lassen", erinnert sich Rother. Nach einer Phase des Zusammenfindens machte man sich mit drei Revox-Tonbandgeräten und einem Mischpult an die Arbeit. "Overdubs mussten wir aufnehmen, während das bereits aufgenommene Material von einer Bandmaschine auf eine andere kopiert wurde", erinnert sich Rother.
Michael Rothers Vision einer Musik jenseits der üblichen Schablonen hatte Ende der 60er-Jahre Gestalt angenommen. "Damals war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich neue, eigene Sachen entwickeln wollte und nicht mehr mit dem Kopieren fremder Idee zufrieden war", erzählt der Gitarrist heute. "Die Grundidee war, den ganzen Ballast über Bord zu werfen. All die Klischees, mit der die Rockmusik befrachtet war, wegzulassen. Kein Blueston mehr, keine Harmoniefolgen. Schluss!" Damit rückten die ursprünglichen Bausteine von Musik in den Vordergrund. Aus einem einzigen Ton entwickelte sich durch Variationen ein komplettes Stück. Es war eine primitive, radikal einfache Musik, die alles vermied, was nach irgendwelchen Vorbildern klang. "Die eigene Identität zu entwickeln - darum ging es," sagt Rother.
Nach Kraftwerk hatte Rother seine Vorstellungen zuerst mit Neu! realisiert. Doch Neu! machten reine Studiomusik, die auf der Bühne nicht zu reproduzieren war. Da erinnerte sich Rother an Cluster. "Ich bin ins Weserbergland gefahren und habe meine Gitarre mitgenommen und mit Möbius und Roedelius gejammt. Ich war fasziniert von der Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den beiden." Cluster waren eine der radikalsten Bands der späten Sechziger gewesen, doch ihre brachiale Geräuschmusik der Frühzeit hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon längst in einen differenzierten Elektropop überführt. "Zuerst war es Elektrik, dann immer mehr Elektronik, die man falsch benutzen wollte. Wir haben die Geräte bewusst anders eingesetzt", beschreibt Dieter Möbius den Entwicklungsprozess. "Wir haben Bastler kennengelernt, die haben für uns diverse Kästchen erfunden. So kamen wir immer mehr in die Elektronik hinein. Sobald die Synthesizer bezahlbar wurden, haben wir uns welche besorgt, aber bis dahin spielten wir unsere zweimanualigen Orgeln, die wir verfremdet haben."
Die Zusammenarbeit mit Rother gab der Musik eine zusätzliche Melodiösität und Dichte. Einer der raren Auftritte von Harmonia 1974 (der nun unter dem Titel "Harmonia Live 1974" zum ersten Mal veröffentlicht wird) in einem ehemaligen Bahnhof in der Nähe von Detmold macht das deutlich. Hoch stapelte sich das Equipment auf den Tischen, während auf dem Fußboden jede Menge Effektgeräte und Pedale lagen. Gerade mal 50 Zuhörer waren da. Die Atmosphäre war intim und konzentriert. Und dann ging es auch schon los: ein monotoner Elektrobeat setzt ein, der in minimalistischer Manier von winzigen Keyboard-Figuren melodisch umspielt wird. Darüber legen sich die langsam anschwellenden, lang ausgehaltenen Töne der E-Gitarre, die in ganz andere Galaxien abzuheben scheint. Das ist kühne Musik - selbst nach fast 33 Jahren noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!