Kostümbildnerin Milena Canonero: Ikonisch in Szene gesetzt
Mit ihrer Arbeit, etwa für „A Clockwork Orange“, gilt Milena Canonero als stilprägende Kostümbildnerin. Nun erhält sie den Goldenen Ehrenbären.
Eine der schönsten Verschwörungstheorien lautet, die US-amerikanische Mondlandung im Jahr 1969 sei von Regisseur Stanley Kubrick in einem Filmstudio inszeniert worden. Und nicht nur das: In „Shining“, Kubricks meisterlicher Stephen-King-Verfilmung von 1980, habe er hernach subtile Hinweise auf seinen Weltraum-Hoax untergebracht – wieso sonst, raunen die Fake-Mondlandungs-IdeologInnen, trage der kleine Danny in ein paar Szenen einen blauen Strickpullover mit einem Apollo-Raketenmotiv?!
Dannys Kleidung und die des von Jack Nicholson gespielten psychopathischen Mörders Jack Torrance gibt Anlass für weitere Spekulationen: Anfangs, als Jack, seine Frau Wendy (Shelley Duvall) und Danny noch nicht in das Hotel eingezogen sind, trägt der zunehmend den Verstand verlierende Jack erdige Farben – Spätsiebziger-Jacketts in Beige, Hosen in Braun, Pullover in Grün. Wendy und Danny dagegen tragen Blau, Rot und Weiß – und damit die amerikanischen Nationalfarben.
Das ändert sich, als sie sich richtig in ihrem isolierten und eingeschneiten Zuhause einnisten: Jetzt sieht man Jack nur noch in Blau, Rot und Weiß, seine gepeinigte Familie dagegen im Rest des Spektrums.
Ein Zufall ist das nicht. Selbst wenn man mit Verschwörungstheorien und der weit verbreiteten unsinnigen Nerd-Ansicht nichts anfangen kann, der Farbwechsel erinnere an die Backstory des Films – das „Overlook“-Hotel war in Stephen Kings zugrunde liegendem Buch und auch bei Kubrick einst eine Grabesstätte, ein Ort des blutigen Mordens an den UreinwohnerInnen Amerikas, somit stünde Jacks Farbwahl symbolisch für die brutale Aneignung der Natives durch die SiedlerInnen.
Milena Canonero wusste nämlich genau, was sie tut. Die Kostümbildnerin, die für ihre Arbeit mit Kubrick (für „Barry Lyndon“, 1975), mit Hugh Hudson (für „Die Stunde des Siegers“, 1981), mit Sophia Coppola (für „Marie Antoinette“, 2007) und im vorletzten Jahr mit Wes Anderson (für grandios-irre Roben an Tilda Swinton in „The Grand Budapest Hotel“) mit dem Oscar und für noch viel mehr Filme mit dem britischen Filmpreis Bafta ausgezeichnet wurde, ist jeden auch noch so abwegigen Gedanken wert, den man sich angesichts ihrer Stoff-, Design- und Farbauswahl zusammenreimt.
Zu der Idee mit dem Mondlandungshinweis schnappte die 71-jährige Italienerin zwar vor ein paar Jahren in einem Zeitungsinterview, sie sei „völliger Quatsch“, denn Kubrick habe sich überhaupt nie für die Kostüme in seinen Filmen interessiert und ihr stets völlig freie Hand gelassen. Und sie habe den Strickpulli einfach süß gefunden.
Pullis sind emotionaler als Dialoge
Aber so einfach ist das nicht. Filmkostüme, genau wie die Kleidung für Theaterstücke, Operninszenierungen und Fernsehen, die Canonero in ihrer langen Karriere ebenfalls entwarf, bestimmen das Bild, den Charakter, die Stimmung, und damit auch die Handlung einer Szene: Als eindeutig visueller und – im Gegensatz etwa zu manchen Dialogen – vor allem emotionaler und unbewusster Reiz sind sie elementar für das fiktionale Erzählen.
Die queeren Filme der Berlinale
Und in Canoneros Fall können sie sogar ikonisch werden: Die weißen Anzüge, die Make-up-Impulse und die Melonen von Alex und seinen Droogs in Kubricks 1971 entstandenem dystopischen Gewaltpsychogramm „A Clockwerk Orange“, nach einem Kostümbild- und Designstudium in Italien Canoneros erste größere Kinoarbeit, stehen nicht nur symbolhaft für den Film, sondern überhaupt für die Themen, die er bearbeitet – Gewalt, Unzufriedenheit und der Kampf gegen das Establishment.
Dass Canonero sogar die feinnervige Modebranche beeinflusst, zeigen Entwürfe wie die „John Galliano für Maison Margiela – Ready To Wear“-Kollektion 2015, bei deren Pariser Defilee der Observer gar einen „A Clockwerk Orange“-Moment ausmachte und unter das Foto eines zusammengekrümmten Wesens mit buntem Make-up und Barrettmütze schrieb: „Denkt man nicht, dieses bedrohliche Model würde gleich seinen Kumpel in die Themse kicken, genau wie Alex?“
Alexander McQueen widmete ihrem Style eine Kollektion
Bereits 1999 hatte der Zeit seines kurzen Lebens mit inneren Dämonen kämpfende Designer Alexander McQueen Canoneros Style (und Kubricks visueller Eindringlichkeit) eine Kollektion gewidmet: Unter dem Namen „The Overlook“ stampften bei seiner Herbst/Winter-Show geisterhafte Models durch Schneegestöber und ein Zwillingspärchen erinnerte an die gespenstischen Zwillingsmädchen, deren Ermordung Danny im Film als Vision plagt.
2007 widmete McQueen wiederum der Arbeit von Canonero/Kubrick seine Frühling/Sommer-Kollektion und orientierte sich an Canoneros opulenten, reifrockstarken Big-Hair-Entwürfen für Kubricks „Barry Lyndon“ von 1975, der im 18. Jahrhundert spielt und Themen wie Aufklärung und Klassenkämpfe zwischen Adel und Bürgertum behandelt.
Jene fiktive, zunehmend bittere Lebensgeschichte eines aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Mannes, die komplett in realen Lichtverhältnissen gedreht wurde, ließ Canonero von ihren Entwürfen aus schwerem Samt, Leinenstoffen und Spitze nicht nur historisch korrekt unterstützen, sondern miterzählen – die fester, bunter, aufwendiger werdende Kleidung verdeutlicht die Entwicklung des Helden auch vestimentär – während sein Gesicht bei seiner zögerlichen Wandlung zum Mitglied der Oberschicht immer blasser, dicker geschminkt und lebloser wirkt.
Vielleicht tritt die mit dem Schauspieler Marshall Bell verheiratete Textilexpertin, der die Berlinale (neben den genannten) eine Reihe mit weiteren ihrer Kostümfilme wie „Out of Africa“, „Dick Tracy“ und „The Cotton Club“ widmet, bei der Verleihung des Ehrenbären am 16. Februar ja im Anzug auf: Die schmale Frau liebt Damensmokings und elegante weiße Zweiteiler. Im Strickpulli wird man sie garantiert nicht sehen, Apollo hin oder her.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker