Kopenhagen Jazz Festival: Evolution der Klänge
Wo einst der Müll deponiert wurde, wird jetzt am „Future Sound of Jazz“ gearbeitet: Der Weiterentwicklung des Jazz galten viele Konzerte in Kopenhagen.
Bei jedem Auftritt klinge das Lied anders, erklärt Daniel Merrill. Aber heute klinge es besonders schön. Ausdrücklich bedankt sich der britische Musiker beim Toningenieur des Jazzhouse in Kopenhagen. Es ist Samstagabend, der letzte Abend des Jazzfestivals in der dänischen Hauptstadt. Zum Abschied wird es feierlich. Merrill erläutert, wie schwer es ist, zwei Geigen so zu stimmen, dass sie alte Folksongs für heutige Ohren nachvollziehbar spielen.
Folk? Was auf der Bühne zu hören und zu sehen ist, findet im Rahmen eines Jazzfestivals statt und entspricht einem Stil- und Genregrenzen öffnendem Verständnis. Merrill spielt zusammen mit seinem ägyptischen Kollegen As Four in minimalem Setting: Zwei Violinen. Aber sie erreichen damit ein Maximum an Ausdrucksmöglichkeiten, mal nehmen sie sich ein Schlaflied aus As Fours Heimatstadt Alexandria vor, sieben die Melodie aus, bis nur noch wenige Pizzicato-Töne übrig bleiben und man dem dämmernden Zustand beim Zuhören schon nahe kommt.
Mal betreiben sie Wurzelsuche, als sie das Traditional „Scarborough Fair“ performen, in einer ergreifenden Version von 1893, wie sie von den Schiffern auf britischen Flüssen gespielt wurde. Kenntnisreich erklärt Merrill die Geschichte zum Song. Das Publikum goutiert den Vortrag der beiden mit Applaus. Damit die Klimaanlage das Konzert nicht stört, bleibt sie ausgeschaltet. Es ist sehr heiß. Zuschauer fächern sich Luft zu. So still ist es, man hört sogar jemanden Eiswürfel knurpsen. Was wiederum zur persönlichen Herangehensweise an Folk in einem Jazzkontext passt.
Jedes Mal klingt das Lied anders: Unweigerlich muss man an den britischen Autor Adam Harper und sein Buch „Infinite Music“ denken. Darin versucht Harper, Musik und ihre Entstehung mit einem systematischen Kategoriensystem zu erfassen, und regt zum Nachdenken darüber an, wie Musik zukünftig klingen könnte. Instrumente, Stile, Kompositionsweisen, all das fasst Harper in dem Begriff „Music Space“ zusammen. Das gibt dem Vorgang der Musik einen Rahmen und zu dem trägt am Samstag im Jazzhouse Kopenhagen auch dessen charakteristische Akustik bei, die die beiden Folkmusiker durch die P.A. verstärkt klingen lässt.
Abstürzen, weich fallen
Aber Musik konstituiert sich eben auch aus nichtmusikalischen Attributen. Harper bezeichnet diese als „degrees of freedom“. Dieser Grad an Freiheit, der auch jenseits der Kontrolle des Komponisten liegt, war zwei Tage zuvor an gleicher Stelle, ein Stockwerk höher im Jazzhouse, zum Greifen nahe, wo die kleine Bühne des Hauses der jungen dänischen Freejazz-Saxofonistin Mette Rasmussen für ihren Duo-Auftritt mit dem US-Drummer Chris Corsano reserviert war. Wer je die Körperlichkeit von brachialem Energy-Playing gespürt hat, hier war sie unmittelbar.
Der Lärm von Saxofon und Drums brachte selbst die Haarspitzen zum Erzittern, das ungestüme „Wailing“, das Röhren von Rasmussens Tenorsaxofon, entsprach dem Tuten von Schiffshörnern, mindestens. Ihre Blue Notes machten sich selbstständig, trudelten wie abstürzende Brieftauben vom Himmel und fielen weich. Während ihr Partner Chris Corsano Schwärme von Wirbeln, Breaks, Schabegeräuschen gegen die ungestümen Saxofon-Melodielinien schmiss.
Aber der Freejazz war kein Selbstzweck. Den beiden Musikern beim Spielen zuzusehen bereitete großes Vergnügen: Rasmussen, ganz in Schwarz mit goldenen Schuhen, immer in Bewegung bleibend, im Kreis laufend, auch mal die Bühne verlassend, weiterspielend, und wie sie ihr Saxofon immer wieder zu infernalischen Fanfarenstößen in die Höhe riss. Dazu Corsano, mit Hunde-T-Shirt, der den direkten Blick mit dem Publikum vermied, wie ein Berserker über Toms wirbelnd, auf Becken in kurzen, kampfkunstartigen Schlägen eindreschend, die Metallringe seiner Trommeln bearbeitend. Wie sie sich gegenseitig sarkastisch ansagten „die einzigartige Mette Rasmussen am Saxofon“, „der liebreizende Chris Corsano an den Drums“, das hatte was. Freejazz mit einem Augenzwinkern.
Showcase für die Branche
Jazz in Kopenhagen ist auch ein Showcase für die Branche. Das war bei einem Auftritt im „Dome of Visions“, einem gläsernen, der Architektur des US-Futurologen Buckminster Fuller nachempfundenen Kubus im Hafen, zu besichtigen, einem temporären Bauwerk. Dort gastierte eine Auswahl von Künstlern, die deutsche Booking-Agenturen aus Skandinavien nach Deutschland, dem inzwischen drittgrößten Musikmarkt der Welt, importieren werden.
Der Dome of Visions lenkt die Aufmerksamkeit auf ein grünes, nachhaltiges Bauen (für das die Kommune Kopenhagen von der EU als grüne Hauptstadt prämiert wurde). Von außen sieht das Gebäude aus wie eine blankpolierte Darmzotte. Drinnen erzeugen fünf Frauen an den Mikrofonen sonderliche Geräusche: Iki nennt sich ein Vokal-Quintett, bestehend aus dänischen, norwegischen und isländischen Sängerinnen. Gurgelnd, schmatzend und stotternd erzeugen sie Obertöne und eine Hauptstimme singt jeweils in einer Fantasy-Sprache und gemahnt an nordische Sagen. Das erregt einer dem Gothic im Videospiel zugetanen Zielgruppe womöglich die Sinne; vielleicht muss man auch einfach nur den Fluchtknopf betätigen, um auf ein anderes Level zu kommen.
Oder tiefer in die Geschichte eintauchen: Wie am Hojbro-Plads in der City, wo alte Männer an den „Spirit of New Orleans“ erinnern und auf einer der circa 70 Bühnen in der Stadt Dixieland spielen. 100 Jahre alt ist diese Musik inzwischen, die einst im Rotlicht-Viertel in New Orleans entstand. Scheinbar unbeeindruckt lassen sich die Kopenhagener auf mitgebrachten Stühlen nieder, nippen am Bier oder begutachten ihre Einkaufstüten, begleitet von der leisen Tragik des Swing.
Jazz in Kopenhagen, das bedeutet aber auch die Wahl ungewöhnlicher Orte und die Fokussierung auf die Weiterentwicklung: „Future Sound of Jazz“ war ein Konzert am Freitagabend betitelt, in einer stillgelegten Papierfabrik auf einer einstmals als Mülldeponie genutzten Insel im Stadtgebiet. Und dort, im Club PB 43, gab es Künstler zu bestaunen, die zum Spannendsten gehören, was mit elektronischer Tanzmusik assoziiert wird. Man kann zu Jazz tanzen: Etwa zum Jazz der beiden Leipziger Produzenten Kassem Mosse und Mix Mup und zum Sound des in Amsterdam ansässigen israelischen Duos Juju & Jordash.
Kopenhagen tanzt
Eröffnet wurde der Abend auf dem Parkplatz neben der Fabrik vom dänischen Diskant-Soundsystem. Von ihren Technics-Plattenspielern hatten die drei Musiker die Gummi- und Stoffschonungen abmontiert und ließen die Nadeln direkt die Metallteller abtasten und legten statt Vinyl CD-Silberlinge auf die Plattenteller. Diese Schabe- und Kratzgeräusche bildeten das Bett für dubbiges Federn, erzeugt von einem kleinen Stylofon und Effekten am Mischpult.
Das Tempo von Kassem Mosse und Mix Mup ist zunächst gedrosselt, langsam schälen sich orientalische Melodiemotive aus den gefilterten Schlieren, einzelne Beckenschläge, zirpende Beats dröhnen aus dem Boxen, verhangene Stimmen, nach und nach erschließen sich diese Sounds zu Grooves und Hooklines, es entsteht Hypnose, die Kopenhagener tanzen. Und sie tanzen weiter zu Juju & Jordash: Die beiden aus Haifa stammenden Musiker trotzen dem House-Sound eine jazzige Seite ab, Keyboardläufe, federnde Ride-Becken: Tempo, Aufbau und Feeling zeigen auf das, was Harper „unendliche Musik“ nennt, eine zeitgemäße Evolution der Klänge.
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