piwik no script img

Konzert in der Berliner PhilharmonieDer Mord am Wahllokal

Klassische Musik wird vielfältig – wie am Sonntagabend in der Berliner Philharmonie, als u.a. Jessie Montgomerys „Hymn for Everyone“ aufgeführt wurde.

Dirigent André Raphel am Sonntagabend in der Berliner Philharmonie Foto: Peter Adamik

Es war ein Konzertabend im Zeichen des Widerstands, der Hoffung – und des Findens am Sonntag in der Berliner Philharmonie. „Hymn for Everyone“ heißt die erste Neuentdeckung, ein Werk der afroamerikanischen Komponistin Jessie Montgomery, das ihrer verstorbenen Mutter, der Dramatikerin Robbie McCauley, gewidmet ist.

Der Titel dieser erst 2022 in Philadelphia uraufgeführten Komposition bezieht sich auf das von McCauly verfasste „Poem for Everyone“. „Hymn for Everyone“ greift den bereits in der US-Bürgerrechtsbewegung bedeutenden Hymnus „Lift Every Voice and Sing“ auf und wird durch seine lyrische Melodie getragen, wobei besonders die Rhythmik der Komposition einem Trauermarsch ähnelt.

Eine erste Fassung von „Hymn for Everyone“ komponierte Montgomery nach einer Wanderung – die zentrale Melodie durchläuft als eine Art Meditation verschiedene Chöre des Orchesters. Seine Fünfte Symphonie, die „Reformationssymphonie“, widmete der jüdische Konvertit Felix Mendelssohn Bartholdy dem Protestantismus.

Dickes Tier mit Borsten

In ihrem vierten und letzten Satz greift sie den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ auf. Mendelssohn Bartholdy komponierte sie im Alter von 21, rechnerisch gesehen ist sie seine zweite Symphonie. Veröffentlicht wurde sie allerdings erst posthum, weil der Komponist zu Lebzeiten nicht genug von ihr überzeugt war. „Der erste Satz ist ein dickes Tier mit Borsten, als Medizin gegen schwache Magen zu empfehlen“ schrieb er 1830 in einem Brief.

André Raphel feiert mit diesem Programm sein Debüt als Dirigent beim Deutschen Sinfonie-Orchester. Er dirigiert Montgomery und Mendelssohn Bartholdy ohne Partitur, und man ist der Fünften Symphonie, nicht zuletzt durch sein klares und lebhaftes Dirigat, keineswegs überdrüssig.

Den Höhepunkt des Abends beschert die europäische Uraufführung von Uri Caines „The Passion of Octavius Catto“. In zehn Kapiteln für Orchester, improvisierendes Klavier, Gospelsolo und Gospelchor erzählt der US-Komponist das Leben und den Tod des Schwarzen Bürgerrechtsaktivisten, Pädagogen und Baseballpioniers Octavius Catto, der 1871 auf seinem Weg in ein Wahllokal in Philadelphia von einem Rassisten ermordet wurde.

Der Komponist improvisiert höchstselbst

Caine selbst improvisiert am Sonntagabend in Berlin virtuos am Klavier und wird begleitet von der Originalbesetzung seiner 2014 uraufgeführten „The Passion of Octavius Catto“: der Sängerin Barbara Walker, einem zu tränen gerührten Bassisten Mike Boone sowie Clarence Penn am Schlagzeug. Lokal erweitert durch den Bundesjugendchor und den BIPoC-Chor „A Song for You“. Beide gemeinsam leuchten durch geschlossenen Klang und Präzision und holen den Diskus als Kollektiv junger Stimmen ins Hier und Jetzt.

An Aktualität ist „The Passion of Octavius Catto“ kaum zu überbieten, wenn die US-Regierung unter Donald Trump Initiativen für „Diversität, Verteilungsgerechtigkeit und Inklusion“ den Krieg erklärt und der „Martin Luther King Jr. Day“ (ein Feiertag, meist dritter Montag im Januar) bei den ersten Bundesstaatsbehörden wieder auf der Kippe steht.

Die klassische Cain’sche Symbio­se von Genres erhält Standing Ovations und verbildlicht, wie gut Repräsentanz funktioniert. Mit Programm und Mu­si­ke­r:in­nen gestaltet sich auch das Publikum umgehend vielfältiger.

Klassische Musik darf Haltung und Protest bedeuten, aber auch, im ganz weltlichen Sinne, als feste Burg gelten im Ringen mit alltäglichen Widerständen. In jedem Fall ist dieser Konzertabend am Sonntag in Berlin eine gelungene Erinnerung daran, dass ein freies, inklusives und diskursives Konzertprogramm auch dauerhaft und abseits von thematischen Projektförderungen vonnöten ist.

Jessie Montgomery zumindest ist 2026 wieder mit ihrer Komposition „Starburst“ beim DSO in Berlin zu Gast. Wer mag, kann das Konzert in der Mediathek von RBB Radio 3 nachhören.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!