Kongress diskutiert Krise der Popkritik: Die Macht der Arroganz
In welchem Takt tanzt avancierte Popkritik - und mit wem? Der Kongress "Dancing with myself" in Berlin fragte nach dem Stellenwert von Musik, Geld und Gemeinschaft nach der Digitalisierung.
Die Musikindustrie ist am Ende, die Popkritik kaputt, und mir ist auch schon ganz schlecht. Der "fundamentalen Krise in der Wertschöpfung von Musik" widmete sich am Wochenende ein Kongress mit dem Titel "Dancing with myself" im Berliner Hebbel am Ufer. Die "Erosion des Tonträgermarktes und anrainernder Geschäftszweige" verändert unter anderem den Stellenwert der Popkritik. Im Zeitalter der Digitalisierung drohe daher eine tiefe ästhetische Kluft, "die eine soziale bloß noch spiegelt", konstatieren die Kuratoren Christoph Gurk und Tobi Müller.
Tatsächlich haben wir es mit Umbrüchen zu tun, deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Das hindert die einzelnen Beobachter aber nicht daran, weitreichende Aussagen darüber zu machen, was das alles denn bedeute. Für den französischen Theoretiker und Präsidentenberater Jacques Attali etwa, dessen Ruf aufgrund von Korruptionsanwürfen nicht ganz unbeschädigt ist, ist die Sache simpel. Der Tod der Musikindustrie, wie wir sie bis vor Kurzem kannten, werde den Musikern und dem Publikum nicht schaden, meint er. Leidtragende seien allein die Konzerne, "welche die Produktion, Distribution und Konsumtion von Musik unter ihrer Kontrolle haben".
Attali hat sich einen theoretischen Rahmen zusammengebastelt, der - wie es scheint, problemlos - marxistische Analysen mit neoliberalen Programmatiken vereinigen kann. In der neuen Ökonomie des MP3-Dateien-Tauschs kündige sich die "Zerstörung der Warenform" an. Der alte avantgardistische Traum der Implosion der Trennung von Leben und Arbeit würde demnach wahr: Wir alle sind potenzielle Komponisten.
Dass diese Beschreibung der Arbeitsweisen, Machtverhältnisse und Aneignungsprozesse im Web 2.0 am Problem vorbeigeht, schnitt unter anderem der Kulturwissenschaftler Tom Holert an. Er wies darauf hin, dass die gegenwärtigen Vertragsverhältnisse zwischen Produzenten und Plattenfirmen den Faktor der Produktionskosten systematisch ausblenden. Hier sei einmal mehr die Musik die avantgardistischste aller Künste, eine alte These übrigens von Attali, weil sie vorexerziert, was auch anderswo gültig sein soll. Woher das Geld komme, mit dem du den Computer bezahlst, den du zum Musikmachen brauchst, interessiere nicht. Die Kehrseite der sogenannten Demokratisierung der Produktionsmittel sei die Abwälzung von Gestehungskosten auf Künstler, Webdesigner, Journalisten, Grafiker.
Selbst wenn also die Warenform flöten ginge, hieße das nicht, dass nicht gleichzeitig neue Formen der Ausbeutung von Kulturarbeitern entstünden, an denen Attalis Idee befreiten Spiels umstandslos zerschellt. Wobei Legionen von Prosumern noch gar nicht in Betracht gezogen worden sind, die im Zweifel für ihre Mitarbeit im Netz nicht nur nicht bezahlt werden, sondern dafür selbst bezahlen sollen. Bekanntlich ist Arbeit großer Spaß, während Konsum heute ganz schön viel Arbeit macht.
Davon abgesehen kehrt die Ware, falls sie je wirklich verschwunden war, womöglich gerade zurück - wenn nicht gleich als auratisches, dann doch zumindest als "authentisches" Qualitätsprodukt. Kultbands florieren im Netz, Vinyl erlebt eine Renaissance. Eine Downloadplattform für elektronische Musik wie Beatport.com verkauft Wav-Dateien in hoher Klangqualität für 2 Euro das Stück, weil anders Nachhaltigkeit nicht mehr gewährleistet sei. Konsequente Niedrigpreispolitik hätte die massenhafte Amateurisierung der Musikproduktion zur Folge, glaubt Ronny Krieger, Vice President of Content dieser Firma. Er prophezeit eine Rückkehr der alten Hifi-Kultur.
Was bleiben wird, ist die neue Vielfalt der Kanäle, die unter anderem für die Krise der Popkritik verantwortlich ist. Der Popkritiker der Zeit, Thomas Groß, warnte allerdings davor, die Vergangenheit zu sehr zu verklären. Ein Blick in alte Ausgaben der Spex würde zeigen, dass der "Bullshitanteil" dort auch nicht niedriger sei als in aktuellen Musikkritiken. Für Jonas Woost, der das Music Department der Radioplattform Last.fm leitet, ist das ohnehin belanglos. Auf seiner Plattform empfehlen Algorithmen den Usern aufgrund ihres Konsumverhaltens neue Lieder. Jeder sei ein Kritiker, zapfte Woost rhetorisch die Punkethik des Do-it-yourself an. Die gedruckte, in den alten Medien beheimatete Musikkritik dagegen sei eine eigene Kunstform, die zwar gern gelesen werde, aber jede Deutungshoheit verloren habe.
Tanzt heute also tatsächlich jeder mit sich selbst, wie der Titel der Veranstaltung polemisch andeutete? War Pop nicht mal was für die Massen? Ist Popkultur überhaupt noch imstande, kollektive Erfahrungen und Gefühlslagen zu beschreiben und als gemeinsames Erlebnis zurückzugeben? Man kann die Entstehung vieler paralleler Öffentlichkeiten als Zerfallsgeschichte, aber auch als gar nicht beklagenswerte Folge einer Selbstermächtigung beschreiben. Dafür hatte der britische Musiker Mark Stewart einen Slogan parat: "We have the power of arrogance."
Gute Popkritik hat immer "die eigene Liebe auf ihre Bedingungen befragt", woran Mark Terkessidis erinnerte. Sie hat also auch von den Kontexten erzählt, in denen Musik entsteht und auf die sie reagiert. Popkritik kann uns also zum Beispiel mitteilen, wer wo und auf welche Weise bestimmte Musiken produziert und konsumiert, also wer in welchen Paralleluniversen lebt. Wenn sie das tut, erzählt sie ganz von selbst vom "großen Ganzen", dessen Verschwinden aus der Popkritik von einer Stimme aus dem Publikum beklagt wurde. Sie berichtet dann auch davon, wie die Leute leben und arbeiten, welche Wünsche und Obsessionen durch Pop artikuliert werden, welche Kämpfe zu führen und welche Verhältnisse zu ändern sind - so genau wie möglich und so arrogant wie nötig.
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