Konflikt an der syrisch-türkischen Grenze: Erdogans syrische Albträume
Die Türkei wollte führende Macht im Nahen Osten werden. Jetzt ist die Freundschaft der türkischen Führung zum syrischen Herrscher Assad in Feindschaft umgeschlagen.
ISTANBUL taz | Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Montag vor einer Woche die Nachrichten angeschaut hat, muss er sich mächtig geärgert haben: Unter dem Jubel der versammelten palästinensischen Bevölkerung rollte da der Emir des Golfstaates Katar, Hamad bin Chalifa al-Thuni, in seiner gepanzerten Mercedes-Limousine durch den Gazastreifen. Als erster ausländischer Staatschef wagte er es, der Hamas-Regierung seine Reverenz zu erweisen.
Dieser Staatschef hatte eigentlich Tayyip Erdogan sein wollen. Im Sommer letzten Jahres, kurz bevor er seine Tour durch Ägypten, Libyen und Tunesien begann, hatte er öffentlich darüber sinniert, auch Gaza zu besuchen. Es wäre die Krönung für den Helden der arabischen Massen gewesen. Doch die damalige ägyptische Militärführung riet ab. Die Konsequenzen eines solchen Besuchs seien schwer kalkulierbar, die israelisch-ägyptischen Beziehungen wären auf eine harte Probe gestellt worden. Erdogan verzichtete schweren Herzens.
Der jetzige Besuch das katarischen Emirs in Gaza wird ihn schmerzlich daran erinnert haben, dass seine Zeit als heimlicher Führer des Nahen Ostens lange vorbei ist. Jetzt lästern diejenigen die ihn vor einem Jahr noch bejubelt haben, Erdogan klopfe zwar starke Sprüche, tue aber nichts. Als Löwe gestartet und als Bettvorleger gelandet, sozusagen.
Am 30. Oktober kommt der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan für zwei Tage nach Berlin. Offizieller Anlass ist die Einweihung der neuen türkischen Botschaft. Erdogan, der von Außenminister Ahmed Davutoglu begleitet wird, trifft Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle.
Themen der Gespräche sind die EU-Beitrittsverhandlungen ebenso wie die Syrienkrise. In Bezug auf die EU hofft Erdogan vor allem, eine erleichterte Visavergabe für den Schengenraum zu erreichen.
Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU, Peter Uhl, hat allerdings gerade erst angekündigt, für ihn komme eine visafreie Einreise für Türken auf keinen Fall infrage.
Auch in der Syrienfrage wird es nach Lage der Dinge keine Fortschritte geben können.
Erdogan wird darauf drängen, dass Deutschland sich an der Aufnahme und Versorgung syrischer Flüchtlinge stärker beteiligt.
Der Grund für den Abstieg hat einen Namen: Syrien. Mit dem Bürgerkrieg in Syrien sind Erdogan und sein agiler Außenminister Ahmed Davutoglu auf dem Boden der nahöstlichen Realitäten gelandet. Wer immer dort mitmischen will, wer glaubt, mit und durch den Nahen Osten seine eigene Machtposition stärken zu können, muss sich auf böse Überraschungen gefasst machen. Das ging so manchem US-amerikanischen Präsidenten so. Die russischen Gegenspieler konnten in den arabischen Ländern ebenso wenig gewinnen. Das muss nun auch Tayyip Erdogan erfahren.
Sie waren beste Freunde
Als in Syrien die Demonstrationen Anfang des letzten Jahres begannen, war Assad noch einer der besten Freunde Erdogans. Nicht nur, dass beide Regierungen mehrmals gemeinsame Kabinettssitzungen veranstalteten – Erdogan und Frau machten sogar Urlaub mit dem Ehepaar Assad.
Syrien war für Erdogan der Schlüssel, um das Tor zu den Märkten und Menschen in der arabischen Welt zu öffnen. Außerdem glaubte er, Assad sei ihm dankbar, weil er als Premier eines Nato-Landes half, das Regime auch im Westen wieder hoffähig zu machen. Erdogan und Davutoglu waren deshalb fest davon überzeugt, Assad zu Reformen überreden zu können, um so den Unmut in der Bevölkerung abfangen zu können.
Assad, glaubte Erdogan, sei zu halten, wenn er nur dem Rat aus Ankara folge. Doch Assad folgte nicht. Statt auf seinen großen Bruder aus Ankara zu hören, folgte er dem Vermächtnis seines Vaters, der aufkommenden Protest stets brutal niedergeschlagen hatte.
Erdogan musste jäh erkennen: Sein vermeintlich großer Einfluss in Damaskus war nichts wert. Glaubt man seinem Außenminister Davutoglu, hat ihn das nicht nur politisch alarmiert, sondern auch ganz persönlich schwer brüskiert.
Erdogan: Assad muss weg
Erdogan schwenkte in kurzer Zeit völlig um. Aus dem Verbündeten Assad wurde ein Feind. Und der Feind sollte weg. Das war nicht nur eine politische Absetzbewegung von einem scheinbar fallenden Despoten. Es war und ist für Erdogan eine ganz persönliche Angelegenheit geworden: Assad muss weg.
Doch Erdogan und Davutoglu verkalkulierten sich erneut. Im Frühjahr war die türkische Führung überzeugt, Assad werde jeden Tag fallen. Als Tayyip Erdogan seine Vorwürfe gegen den Despoten, „der sein eigenes Volk ermordet“, immer lauter vortrug, hoffte er, Assad den Rest zu geben. Assad fiel nicht. Stattdessen eskalierte der Bürgerkrieg. In Syrien entstand die denkbar schlimmste Situation, sagte Präsident Abdullah Gül. Das Land drohe „in einen Krieg entlang ethnischer und religiöser Gruppierungen zu versinken“.
Folge für die Türkei: Mittlerweile sind mehr als 100.000 Flüchtlinge über die Grenze gekommen. Die Regierung hat große Probleme, die Leute unterzubringen und zu versorgen. Schlimmer noch, der Krieg droht sich auf die Türkei auszudehnen. Bewaffnete syrische Aufständische operieren von der Türkei aus, weshalb es eigentlich auch nicht verwundern kann, dass immer wieder syrische Granaten auch auf türkischem Boden einschlagen. Viel bedrohlicher aber ist, dass Assad die Widersprüche innerhalb der Türkei geschickt ausnutzt.
Erdogan, vermeintlicher Kämpfer für die Menschenrechte in Syrien, hat mit der Kurdenfrage zu Hause selbst ein immenses ungelöstes Problem. So, wie Erdogan die syrische Opposition unterstützt, erlebt andererseits auf einmal die kurdische PKK einen enormen militärischen Aufschwung. Zudem hat Assad seine Truppen aus den von Kurden besiedelten Gebieten entlang der türkischen Grenze zurückgezogen. Folge: Pro-PKK orientierte kurdische Gruppen haben dort zumindest in einigen Städten die Kontrolle übernommen.
Drohender türkischer Befreiungsschlag
Erdogan steht damit vor einer der schwierigsten Situationen in seiner zehnjährigen Regentschaft: Der Krieg greift auf die Türkei über. Statt zur unangefochtenen Führungsmacht in der Region droht die Türkei zu einer Konfliktpartei unter anderen zu werden.
Erdogan neigt in solchen Situationen zum großen Befreiungsschlag. Er würde am liebsten mit türkischen Bodentruppen einmarschieren. Doch bislang halten ihn seine Militärs, aber auch sein Außenminister zurück. Vor allem in den USA will man nicht in einen neuen Krieg im Nahen Osten hineingezogen werden. „Wir fürchten“, berichtete der Kolumnist Mehmet Ali Birand von einem Gespräch im US-Außenministerium, „dass Erdogan sich durch eine neue Provokation von Assad zu einer Intervention hinreißen lässt und uns alle mit hineinzieht.“
Erdogan versucht seit Längerem vergeblich, Präsident Barack Obama für eine Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze zu gewinnen. Das hätte den Vorteil, dass die Flüchtlinge auf syrischem Boden untergebracht werden könnten und die türkische Armee die Kontrolle über einen großen Teil der jetzt von syrischen Kurden selbstverwalteten Gebiete erlangte.
Doch eine solche Pufferzone müsste aus der Luft abgesichert werden. Das geht nur mit Unterstützung der USA. Sowohl Präsident Obama als auch sein Herausforderer Mitt Romney haben jedoch bereits abgewunken. Die Absage dürfte auch über den Wahltag vom 6. November hinaus Bestand haben.
Bevölkerung lehnt Alleingang ab
Seitdem diskutieren türkische Medien die Frage: Können wir es auch allein? Einer der dümmsten Lautsprecher Erdogans, Europaminister Egeman Bagis, glaubt, wenn die türkische Armee erst einmal losschlagen würde, hätte sie in wenigen Stunden Damaskus erobert. Andere sind realistischer.
Außenminister Ahmet Davutoglu betont, eine militärische Intervention könne es nur mit dem Mandat des UNO-Sicherheitsrates geben. Da sind Russland und China vor. Nach letzten Umfragen sind außerdem 70 Prozent der Bevölkerung strikt gegen eine Militärintervention im Nachbarland. Selbst mit einer Neuordnung Syriens nach einem Abgang von Assad wollen 51 Prozent nichts zu tun haben.
Trotzdem befürchten viele Türken, die Situation könne aus dem Ruder laufen. Erdogan, schreibt Nuray Mert, eine seiner bekanntesten Kritikerinnen, „ist kein Mann des Kompromisses, sondern der Konfrontation. Er könnte allen Einwänden zum Trotz einen Alleingang wagen. Das könnte dann zum türkischen Vietnam werden.“
Nüchtern betrachtet, kann Erdogan nichts tun als abwarten. Selbst sein Einfluss auf die syrische Opposition schwindet. Die in Istanbul versammelte Exilopposition ist zerstritten. Die auf der türkischen Seite der Grenze sitzenden Führer der Freien Syrischen Armee haben in Syrien nichts zu melden. Die Aufständischen vor Ort orientieren sich lieber an ihren direkten Geldgebern und Waffenlieferanten in Saudi-Arabien und in Katar. Nicht nur in Gaza, auch bei den sunnitischen Aufständischen rund um Aleppo und Damaskus hat Scheich Hamad bin Chalifa al-Thuni gegenüber Erdogan die Nase vorn.
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