Komponist Georg Hajdu über das menschliche Gehirn: "Wahnsinn ist nicht Unsinn"
Der Komponist Georg Hajdu erforscht in seiner Musik, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Zum Beispiel das von Ulrike Meinhof. Oder das jener Studentin, die 1984 in Köln ihren Hebräisch-Professor erschoss.
taz: Herr Hajdu, Ihre Kompositionen stecken voller Primzahlen. Warum eigentlich?
Georg Hajdu: Musiker sind ja immer ein bisschen Mathematiker. Selbst Bach und Mozart haben sich mit Zahlen befasst. Im 20. Jahrhundert waren die Komponisten auf Zahlen dann regelrecht fixiert. Und was mich betrifft: Ich habe ich mich viel mit Computern beschäftigt. Und wenn man kompositorische Prozesse mit dem Computer abbilden will, muss man formalisieren. Das heißt, man muss Tonhöhen und -abstände für den Computer in Zahlen übersetzen.
Gibt es besonders interessante Zahlen?
Ja. Denn schon in der Antike hat Pythagoras herausgefunden, dass sich zwei Töne dann wohlklingend zueinander verhalten, wenn sie eine bestimmte Proportion haben. Die Zahl 2 steht zum Beispiel für die Oktave, bei der die Tonhöhe verschieden, die Klang-Qualität aber identisch ist. Wenn Sie also ein Intervall haben wollen, das nicht identisch klingt, kommen Sie automatisch zu ungeraden Zahlen. Die erste davon ist die 3. Sie steht für die Quinte. Und so weiter. Mit diesen Zahlen komponiere ich.
Interessiert Sie auch, was die Hörer dabei empfinden?
Selbstverständlich. Die Frage, wie wir Töne wahrnehmen, interessiert mich brennend. Ich bin betreibe zwar keine neurologischen Studien, aber ich hatte immer ein offenes Ohr für Molekularbiologie und die übrigen Naturwissenschaften. In Hamburg unterrichte ich zurzeit ein Fach namens "Psychoakustik".
Womit befasst sie sich?
GEORG HAJDU 50, hat in Köln sowie am Center for New Music and Audio Technologies in den USA studiert.
1996 hat er mit seiner Frau, der Pianistin Jennifer Hymer, das Ensemble WireWorks gegründet, das sich der Live-Aufführung elektro-akustischer Musik widmet.
Seit 2002 ist er Professor für multimediale Komposition an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater.
Mit der Frage, was in uns vorgeht, wenn wir Musik hören. Damit, aufgrund welcher - bewusster oder unbewusster - Zusammenhänge wir entscheiden, ob wir eine Komposition mögen. Wenn wir diese Vorgänge verstehen, können wir auch begreifen, warum zeitgenössische Musik eine Nischenkunst ist.
Nämlich?
Weil sie so selten gespielt wird, dass wir uns nicht an sie gewöhnen können. Das wiederum hängt mit der Quotenregelung zusammen, aufgrund derer im öffentlichen Rundfunk nur selten zeitgenössische Musik gespielt werden darf, weil sie so wenig Menschen hören.
Gibt es einen neurologischen Grund dafür, dass Neue Musik ein Nischendasein fristet?
Ja. Wenn wir tonale Musik hören, nehmen wir Melodie, Harmonie und Rhythmus sofort als Teil eines Systems wahr. Wir können sogar vorhersagen, was als Nächstes kommt, weil wir die Struktur des Systems erfasst haben. Auf die zeitgenössische Musik trifft das aber nur bedingt zu. Sie ist oft sperrig und offenbart ihre Struktur nicht sofort.
Das heißt?
Die Hörer können nicht vorhersagen, was als Nächstes kommt. Das kann dazu führen, dass sie sich überfordert fühlen und sich langweilen, weil sie vor einer Wand zu stehen glauben. Das passiert bei zeitgenössischer Musik leider zu oft. Im Grunde ist das Problem aber nicht neu: Zu allen Zeiten waren Komponisten etwas weiter als die restliche Gesellschaft.
Die sich heutzutage langsamer an zeitgenössische Musik gewöhnt als früher. Oder?
Es stimmt schon, dass im 20. Jahrhundert etliche Künstler nicht verständlich sind, dass sie verstören wollten. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es die Dadaisten, danach die Formalisten. Sie haben sich eine Zeit lang nur noch mit Serien beschäftigt. Alles musste eine bestimmte Abfolge haben, man komponierte Verklanglichungen mathematischer Strukturen. Dann hat man aber schnell begriffen, dass es so nicht geht. Iannis Xenakis zum Beispiel hat irgendwann gesagt, Leute, ihr spinnt.
Wer waren diese "Spinner"?
Der frühe Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez zum Beispiel. Sie haben sich dann aber bekehren lassen und Musik geschrieben, die viel sinnlicher war. Es war nur eine kurze Phase, in der Musik geschrieben wurde, die am Hörer vorbeiging.
Ihre Oper "Der Sprung", die ein jüdisches und ein DDR-Thema eint, ist wenig chronologisch und auch nicht sehr eingängig. Wie entstand sie?
1984 hat am jüdischen Seminar der Kölner Universität eine Studentin den Professor erschossen. Ich bin jüdischer Abstammung, und mich interessierte dieser Mord. Schon damals dachte ich, dass man daraus eine Oper machen sollte. 1990 ging ich für fünf Jahre in die USA. Auch dort ließ mich das Thema nicht los.
Warum nicht?
Weil so unglaubliche Komponenten zusammenkamen: Die Täterin, in der Oper eine Turmspringerin, war eine hoch begabte Philosophie-Studentin, die aus der DDR in den Westen gegangen war. Sie war auch in ihrem Sozialverhalten auffällig; es gab da eine interessante psycho-pathologische Komponente. Sie glaubte zum Beispiel, ein Liebesverhältnis mit Mick Jagger zu haben. Nach längerem Sinnen habe ich beschlossen, als Dissertation diese Oper einzureichen, was in den USA ja möglich ist. Ich habe den Autor und Filmer Thomas Brasch für das Libretto gewonnen. Er hatte sofort Zugang zu dem Thema.
Aber er erzählt nicht chronologisch.
Nein. Angefangen hat alles mit einem Satz, den er mal auf eine Serviette schrieb: "Eine Oper schreiben heißt keinen anderen Ausweg wissen." Ich habe ihn dann gebeten, das Motto auf den Anrufbeantworter zu sprechen, und eine systematische Klanganalyse dieses Satzes gemacht. Er schrieb unterdessen elf Textfragmente, die die Zuhörer zu einer Geschichte zusammensetzen sollten.
Sie haben auch ein Stück über Ulrike Meinhof geschrieben, in dem es um deren Zerrissenheit geht. Fesseln Sie solche Persönlichkeiten besonders?
Ja. Denn Wahnsinn ist ja nicht Unsinn. Wahnsinn ist nur eine Verschiebung von Sinn insofern, als Tabus gebrochen werden und die Gesellschaft sich beunruhigt.
Ihre Stücke handeln oft von Rebellen. Sind sie ein politischer Künstler?
Ja, aber nicht in dem Sinne, dass ich mich einer politischen Bewegung verpflichtet fühle. Mich interessieren diese Menschen, bei denen es einen Knacks gab. Was hat sie bewegt, frage ich mich. Warum tun sie Dinge, die andere verstörend finden?
Haben Sie es für Ulrike Meinhof herausgefunden?
Ich glaube ja. Ich vermute, dass ihre Verstörung im Privaten lag. Das hat sie dann auf die Gesellschaft projiziert.
A propos privat: Wo liegt Ihre persönliche Verstörung?
Verstörung ist vielleicht übertrieben. Aber meine Eltern sind ungarische Juden und Holocaust-Überlebende. Da habe ich, im Nachkriegs-Deutschland aufwachsend, ein gewisses Auf-der-Hut-Sein mitbekommen.
Das heißt?
Ich hatte keine "normale" Kindheit, sondern habe mich schon früh mit Dingen auseinander gesetzt, mit denen manche nie zu tun haben werden.
Ihre Eltern sprachen über den Holocaust?
Ja, natürlich. Zum Beispiel in dem Sinne, dass ich meine Identität nicht bekannt machen sollte. Das war auch berechtigt, denn in den 60er, 70er Jahren hörte man in der Bundesrepublik nicht gern davon. Es herrschte eine große Betroffenheit, und oft fand ich mich in der Rolle, dass ich die Leute trösten musste.
Wie empfanden Sie das?
Als unangenehm, weil mich das von ihnen trennte. Aber ich wollte ja Teil sein und dachte auch nicht in Kategorien von Täter- und Opfervolk. Man kann nicht in diesen Polaritäten denken, wenn man in diesem Land lebt, hier zur Schule geht und Nutznießer eines DAAD-Stipendiums ist.
Wurden Sie jüdisch erzogen?
Kaum. Jüdische Identität war schon bei meinen Großeltern sehr verschwommen. Sie feierten Weihnachten und zündeten ab und zu Chanukka-Kerzen an. Bei mir war es noch extremer. Ich wusste, wann Weihnachten war, aber die jüdischen Feiertage waren mir im Grunde kein Begriff.
Haben Sie später versucht, sich jüdische Identität zu erarbeiten?
Ich habe mich immer wieder gefragt, was dieses Jüdische überhaupt ist. Eine Zeit lang bin ich mit meinem Schwiegervater, der gläubiger Jude ist, in die Synagoge gegangen. Nach ein paar Jahren war mir klar, dass ich das nicht bin. Ich bin nicht religiös. Also bleibt nur die Identität des Kulturjuden, und auch da weiß ich nicht genau, was das ist. Denn auch viele nichtjüdische Deutsche fühlen sich dieser Kultur ja stark verbunden.
Ist Ihr Jüdischsein überhaupt noch ein Thema für Sie?
Nur selten, glücklicherweise. Und ich habe auch gelernt, Geduld zu haben. Wenn zum Beispiel in der Jury jemand sagt, dieses jüdische Projekt sollten wir aus Betroffenheit fördern, denke ich: Das hättet ihr euch sparen können.
Wären Sie genauso gern Naturwissenschaftler geworden?
Ach, ich glaube, Komponieren ist genau das Richtige für mich. Die Naturwissenschaften sind mir zu kleingliedrig und mühsam. In der Musik kann ich Welten bauen und meinen Ideen in hohem Tempo nachgehen. Ich muss nicht alles hinterfragen und testen. Andererseits, was wäre, wenn ich wirklich Wissenschaftler wäre? Vielleicht würde ich meine Experimente mit derselben Liebe machen wie meine Kompositionen. Nein, ich glaube, ich kann das nicht entscheiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Diskussion um US-Raketen
Entscheidung mit kleiner Reichweite