: Kommunikatives Geraune
■ Die öffentliche Meinung, publiziert von Group Material
Stell den Sekt kalt“, „Berliner Bahntrasse bedroht die Gross -Trappe (Kranichart)“, „Berlin 1990: Ausgangssperre wegen Ozonloch“, „Steffi Graf droht in die USA auszuwandern“, „Wer weiß schon, wie wir zukünftig leben werden“.
Wer weiß schon, welche der oben zitierten Botschaften der unendlich über die Avnet Wandzeitung am Kurfürstendamm flimmernden Buchstabenketten zu einem „Kunstprojekt im Stadtraum“ von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst gehört. Ein wenig bedrohlich und surreal wirken die in wenigen Zeilen immer zu Aufschreien verdichteten Texte allemal.
„Wer weiß schon, wie wir zukünftig leben werden. Die Menschen werden immer mehr vom politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen, so daß sie aufhören, sich darum zu kümmern. Die Menschen müssen sehr viel engagierter sein, bei dem, was sie tun, und sich für bestimmte Anliegen und Rechte einsetzen, die wir jetzt haben, zum Beispiel die Abtreibung. In fünf Jahren ist es aus damit.„ Dieser Text einer New Yorker Studentin wurde mit sechzig anderen Statements von der amerikanischen Künstlergruppe „Group Material“, die 1987 das documenta -Gütesiegel aufgeprägt bekam, aus 120 Interviews ausgewählt, die Group Material in Berlin und New York aufgenommen hatte. In ihrer Recherche der öffentlichen Meinung fragte sie nach der Definition des Freiheitsbegriffs, nach der Bedeutung des Nationalbewußtseins und den Vorstellungen von der Zukunft des jeweiligen Staates. Für die Stadt Berlin, die aus der Perspektive der Amerikaner noch immer an der gerade erst vernarbenden Schnittstelle zweier gesellschaftlicher Systeme und Ideologien gelegen eine Zone des Umbruchs markiert, erschien ihnen ein solches Projekt, das Stimmungen registriert und unkommentiert reproduziert, die angemessene Darstellungsform.
Opportunismus und Opposition, Befürchtungen und Hoffnungen, Nationalstolz und erlittene Ausländerfeindlichkeit artikulieren sich in den ausgewählten Meinungen. Neben der Wandzeitung auf Plakatwänden und als Zeitungsbeilage im 'Tagespiegel‘ publiziert, glaubt Group Material, damit direkt in die Öffentlichkeit hineingesprungen zu sein wie einst Daniel in die Löwengrube. Doch ihre unkommentierte Textsammlung erscheint zunächst nicht mehr als nur ein Spiegel der Volksmeinung. Sie steuern den beabsichtigten Dialog, die Fassung und Differenzierung der Meinung der Rezipienten nicht. Allein indem sie die Werbeflächen, die man gewohnterweise als Sprachrohre von Konzernen kennt, zum Ort der subjektiven Artikulation umfunktionieren, greifen sie in die Funktionen der sozialen Öffentlichkeit ein.
Das Konzept von Group Material basiert auf dem Vertrauen in die öffentliche Auseinandersetzung. Artikulation und Kommunikation werden in der idealen demokratischen Gesellschaft zu unabdingbaren Fähigkeiten des Menschen erklärt, die den alten Tugendkanon ablösen. Doch die scheinbar so unendliche Kommunikation, wie sie in der ständigen Volksbefragung der Medien und den demoskopischen Vorhersagen der Politik hochgehalten wird, ist längst pervertiert zur unendlich die gleichen Floskeln reproduzierenden Maschine. Zwischen die entindividualisierte Information, deren Sprecher nicht mehr zu erkennen ist, und den Intimität simulierenden Werbetext versucht Material Group wieder die Sprache der Subjektivität zu schieben und die authentische Form der Aussage als Kunstform neu zu etablieren.
Katrin Bettina Müller
„Demokratische Erhebung“ von Group Material, bis zum 5.Juli: Plakatwände auf den U-Bahnhöfen Wittenbergplatz, Kottbusser Tor, Mehringdamm, Rathaus Neukölln; auf der Avnet -Großbildwand am Kurfürstendamm; als Zeitungsbeilage und Prospekt in Kinos und Kulturzentren.
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