Kommune Diekhof ist pleite: Die Amts-Niederlage
Die Schuldenlast der Gemeinde Diekhof ist zu groß, der Spielraum ihrer Vertreter zu klein. Der Gemeinderat trat deswegen kollektiv zurück. Und nun?
DIEKHOF taz | Ein grauer Plattenbau in Diekhof, Ortsteil Pölitz. Wer fragt, wo alles angefangen hat, wird von Bürgermeister Ralf Lenz an diesen Ort geführt. Auf einer Bank vor dem Haus sitzen drei ältere Damen. Eine stützt sich auf ihren Rollator. Sie heißt Margot Helms, 77 Jahre ist sie alt. Als sie den Bürgermeister erblickt, richtet sie das Wort an ihn: „Herr Lenz, in der Wohnung, wo früher die Frau Stübe gewohnt hat, piepst immer der Rauchmelder.“
Der Plattenbau ist Eigentum der Gemeinde Diekhof, wahrscheinlich ist der Akku des Rauchmelders aufgebraucht, die Wohnung steht leer. „Ich kümmere mich darum“, verspricht der Bürgermeister. Noch bis zum 31. August ist Ralf Lenz Ansprechpartner für piepsende Rauchmelder und andere Belange der Bürger. Dann ist Schluss.
Der Bürgermeister hat sein Amt niedergelegt. Die Schuldenlast der Gemeinde ist zu groß, der Handlungsspielraum der Gemeindevertreter zu klein. So klein, dass es praktisch gar nichts mehr zu entscheiden gibt. Deshalb ist Ralf Lenz von seinem Amt zurückgetreten, alle acht weiteren Gemeindevertreter auch. Viele Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern sind klamm, aber einen kollektiven Rücktritt hat es deswegen bislang nirgends gegeben. Margot Helms sagt: „Wir sind ein Schiff ohne Kapitän.“
Diekhof ist mit 2,5 Millionen Euro verschuldet, das ist anderthalb mal so viel, wie der jährliche Haushalt hergibt. Ein knappes Fünftel sind Altschulden aus DDR-Zeiten, die aus der Übernahme der Plattenbauten durch die Gemeinde stammen. Der größere Teil stammt aus Krediten, mit denen die Gemeinde Anfang der 90er Jahre ihre insgesamt sieben Wohnblocks saniert hat. Damals gab es auf eine Wohnung drei Bewerber, die Maßnahme hat das Land Mecklenburg-Vorpommern mit einem zinsfreien Darlehen bezuschusst.
Die Kredite sollten durch Mieteinnahmen bezahlt werden, doch die Mieter wurden immer weniger. In der Landwirtschaft wurden Menschen durch Maschinen ersetzt, die Gewerbe machten dicht oder zogen in die Stadt. Im Jahr 2004 lebten mehr als 1.100 Menschen in Diekhof, sieben Jahre später waren es nur noch 940. Drei der Wohnblocks wurden verkauft, einer abgerissen. Im Pölitzer Plattenbau stehen heute 9 der 24 Wohnungen leer, zwei der verbliebenen Mieter wollen bald wegziehen.
„Unser Rücktritt ist ein Protest“, sagt Ralf Lenz. Er ist keiner, der mit einem Transparent vor den Rostocker Kreistag ziehen würde. Lenz ist selbstständiger Versicherungsmakler. Zuhause hat er ein Büro eingerichtet, mit Vorzimmer und Sekretärin. Als er am 5. August förmlich entlassen wurde, war der Saal voll. Bürger und Lokalmedien waren dabei, sogar das Fernsehen. Der Rücktritt ist Lenz nicht leicht gefallen, aber er ist wohlüberlegt.
Altschulden aus DDR-Zeiten
Das Schlüsselerlebnis hierzu ist ein Zusammentreffen mit der Kommunalaufsicht. Die Kommunalaufsicht ist für Kommunen in etwa das, was die Troika für Griechenland ist. Sie greift ein, als Diekhof die Raten für seine Kredite nicht mehr bezahlen kann. Im Jahr 2011 nimmt die Gemeinde einen sogenannten Kassenkredit auf. Kassenkredite sind vergleichbar mit einem Dispokredit beim Girokonto. Kommunen sollen damit laufende Ausgaben im Voraus bezahlen können.
In Diekhof überschreitet die Summe der Kassenkredite den roten Bereich – zehn Prozent der eigenen Haushaltssumme. Seither müssen Ausgaben von über 1.000 Euro von der Kommunalaufsicht des Landkreises Rostock genehmigt werden. Seitdem besteht kommunale Selbstverwaltung in Diekhof nur noch auf dem Papier. Und so kommt es zu dem Zusammentreffen, das sich so stark in Ralf Lenz’ Gedächtnis eingeprägt hat.
Es ging dabei um Fördermittel, die die Gemeinde beantragt hatte, von der EU und dem Land, für den Straßenbau. Die Gemeinde musste nur einen kleinen Teil der Summe selbst aufbringen. Doch die Kommunalaufsicht genehmigte das nicht, nicht ohne Fördermittelbescheid. Eine rechtliche Sache. Lenz sagt, er habe das nicht verstehen können. In der Vergangenheit wäre so etwas doch auch möglich gewesen, sagt er. Ein Vertreter der Kommunalaufsicht soll darauf entgegnet haben: „Solange ich an diesem Ende des Tisches sitze, gilt meine Rechtsauffassung.“
Nicht auf Augenhöhe
Der Vertreter bestreitet, das so gesagt zu haben. Er habe bloß auf „haushaltsrechtliche Vorschriften“ hingewiesen, wozu er gesetzlich verpflichtet sei. Für den Bürgermeister hingegen hat sich damit das unangenehme Gefühl bestätigt, das er im Umgang mit dieser Behörde schon lange hatte. Er, der ehrenamtliche, aber gewählte Volksvertreter, hat gegenüber den hauptberuflichen Bürokraten nichts mehr zu melden. „Die Treffen mit der Kommunalaufsicht waren keine Gespräche auf Augenhöhe. Die Behörde hat uns bevormundet, uns diktiert, was wir zu tun haben.“
Lenz schlägt vor umzuschulden, um von momentan niedrigen Zinsen zu profitieren. Immer wieder hätten sie, die Gemeindevertreter, die Steuersätze ja erhöht, die Gewerbesteuer, die Grundsteuern A und B, die Hundesteuer. Doch das alles habe der Kommunalaufsicht nicht gereicht, eine Verdopplung der Steuersätze habe die gefordert. Das sei nicht wahr, entgegnet die Kommunalaufsicht.
Lenz kennt sich aus mit Kommunalfinanzen, er ist studierter Betriebswirt. Seit 1994 ist er Gemeindevertreter, von Anfang an war er im Finanzausschuss aktiv, als Parteiloser wie fast alle Gemeindevertreter. Aber seine Expertise erscheint ihm bei der Kommunalaufsicht unerwünscht, er fühlt sich von oben herab behandelt. Ein tragischer Fall eines Sender-Empfänger-Problems, heißt es aus der Pressestelle des Kreises. Die Kommunalaufsicht sei bemüht zu helfen, aber die Lage sei nun mal schwierig.
Die Treffen und Briefwechsel mit der Kommunalaufsicht beanspruchen für Lenz immer mehr Zeit und Energie. Sein Beruf beginnt unter dem Amt zu leiden. Zuletzt kommt er nachts vor lauter Grübeln kaum noch zur Ruhe. Dann der Rücktritt. Lenz reicht ihn als Erster ein, zwei Tage später folgen seine beiden Stellvertreter. Und kurz darauf der Rest der Gemeindevertretung.
Gutshof und Plattenbauten
Diekhof ist eine Gemeinde von großer Fläche. Sie umfasst acht Ortsteile. Sie sind räumlich voneinander getrennt, dazwischen Wald, Wiesen und viel Ackerland, das in der Vormittagssonne golden leuchtet. Zerfallene und aufwendig restaurierte Bauernhäuser wechseln sich ab mit Einfamilienhäusern. Im Ortsteil Alt Diekhof gibt es einen Gutshof, der aus zwei ineinander übergehenden Türmen besteht. Auch der Gutshof war bis vor Kurzem verfallen. Seine Türme wurden von einem Investor wieder aufgebaut, jetzt werden Wohnungen darin vermietet.
Der Plattenbau in Pölitz passt nicht so richtig in dieses Bild. Pölitz war bis vor einigen Jahren eine eigene Gemeinde, für die Fusion gab es eine Prämie vom Land. Die Gemeindevertreter fürchten, dass Finanzhilfen des Landes an die Bedingung geknüpft werden sollen, dass Diekhof Teil einer anderen Gemeinde werden soll.
Margot Helms, die Frau auf dem Rollator, hat ihr ganzes Leben in Pölitz verbracht. Einen Großteil davon in dem grauen Plattenbau. Sie fragt sich, was nach dem Rücktritt wohl damit passiert, ihrem Zuhause seit den 1960er Jahren. Folgt man der Logik der Kommunalaufsicht, müssten die Mieter raus. Vertreter der Kommunalaufsicht haben die Gemeindevertreter dazu angehalten, die Wohnblocks auf ihre Wirtschaftlichkeit zu überprüfen.
Ein Wohnblock, in dem weniger als ein Drittel der Wohnungen vermietet sind, ist wirtschaftlicher, wenn niemand darin wohnt. Und wenn niemand darin wohnt, dann ist es wirtschaftlicher, ihn abzureißen. Aber wer möchte im Alter von 77 Jahren noch umziehen? Margot Helms nicht. Die Kommunalaufsicht sagt, sie plane weder Abriss noch Zwangsräumung des Plattenbaus. Aber die Gemeinde sei dazu angehalten, „alle Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation zu prüfen“.
Neuwahlen im Januar
Am 1. September werden zwei Beauftragte des Kreises die Gemeinde übernehmen. Noch weiß in Diekhof keiner, wer diese Beauftragten sind. Nur, dass einer den Bürgermeister ersetzen soll und einer die Gemeindevertretung, bis zu den Neuwahlen am 12. Januar. Wenn sich denn überhaupt nochmal jemand zur Wahl stellt.
Silvia Sanftleben hat früher in dem Wohnblock gelebt, der inzwischen abgerissen wurde. Sie und ihr Mann haben sich dann ein Haus gebaut. Sanftleben ist eine robuste Frau Ende vierzig mit rot gefärbten Haaren, Mutter von sieben Kindern. Sie hat sechs Jahre lang den Jugendclub in Diekhof betreut. „Die jungen Leute haben mir alles anvertraut, Liebeskummer, Geldsorgen, Ärger bei der Arbeit. Sie nannten mich Mutti.“ Sanftleben erinnert sich gern an die Zeit mit den Jugendlichen. Kochnachmittage, Filmabende, Bewerbungstraining.
„Besonders wichtig war mir, den jungen Leuten das soziale Zusammenleben nahezubringen, dass man auch ohne Geld anderen Menschen helfen kann“, sagt sie. Im vergangenen Jahr konnte die Gemeinde ihren Vertrag nicht mehr verlängern. „Als ich das den Kindern erzählte, sagten sie zu mir: Silvi, du spinnst doch!“ Einige schimpften, andere weinten. Jetzt arbeitet sie in einem Altenheim.
Vor einigen Tagen fand Silvia Sanftleben in ihrem Briefkasten einen Zettel. Eine Rücktrittserklärung, unterzeichnet von Ralf Lenz und allen acht weiteren Gemeindevertretern. Darin steht, dass den Gemeindevertretern jeglicher Spielraum für Gestaltung abhandengekommen sei. Dass das Land jedes Jahr seine Rücklagen millionenfach erhöhe, Gemeinden aber erst dann gefördert würden, wenn sie sich zusammenschlössen. Und zuletzt: „Wir wünschen der künftigen Gemeindevertretung viel Erfolg bei der Wahrung der Interessen unserer Bürger.“
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