Kommentar: Politisches Tourette-Syndrom
Wer so zwanghaft auf die Schwächsten der Gesellschaft einhaut wie er, leidet entweder unter einer Art politischem Tourette-Syndrom. Oder er arbeitet heimlich an seiner Kündigung.
Nun also die Familien mit Kindern. Nachdem der für Verbalausfälle bekannte Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) deutliche Worte für SchülerInnen, BeamtInnen, ErzieherInnen und Hartz-IV-EmpfängerInnen gefunden hat, kriegt jetzt eine neue gesellschaftliche Gruppe ihr Fett ab: Kindergeld solle es künftig erst ab dem dritten Kind geben, schlägt Sarrazin vor. Sein Argument: Das Geld habe bisher nicht zu mehr Geburten geführt, daher könne man es getrost einsparen. Ein interessanter Gedanke: Offenbar sieht Sarrazin das Kindergeld als eine Art Karnickelprämie für die vermehrungsunwilligen Deutschen.
Dabei vergisst der Finanzsenator leider, dass das Kindergeld nicht nur ein Instrument zur "generativen Steuerung" ist. Sondern eine notwendige Unterstützung, ohne die viele Familien nicht über die Runden kämen. Die Forderung, allen Familien mit "nur" einem oder zwei Kindern die Finanzhilfe zu kürzen, ist nicht nur unpraktikabel angesichts der ohnehin verbreiteten Kinderarmut in Berlin. Politisch und sozial ist Sarrazins Vorstoß mehr als instinktlos, suggeriert er doch, dass das an Kleinfamilien ausgezahlte Kindergeld pure Verschwendung sei. Fehlt nur noch, dass der Obersparer von Rot-Rot den Eltern einen billigen Speiseplan vorrechnet wie bei den Hartz-IV-EmpfängerInnen.
Dass er so ganz nebenbei den Kündigungsschutz lockern will und den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst zu teuer findet, passt ganz gut ins Bild des gnadenlosen Rechners, als der sich Sarrazin gern inszeniert. Wer so zwanghaft auf die Schwächsten der Gesellschaft einhaut wie er, leidet entweder unter einer Art politischem Tourette-Syndrom. Oder er arbeitet heimlich an seiner Kündigung: Für 2009 sucht die Bundesbank in Frankfurt einen neuen Vorstand. Und Sarrazin wäre bereit.
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