Kommentar: Die nackte Angst vor der Westalgie
Das ICC wird saniert, obwohl ein Neubau billiger wäre. Denn Rationalität hat derzeit weder im Berliner Senat noch auf den Oppositionsbänken Platz.
Mit etwas gutem Willen könnte man sagen, der Senat habe gelernt. Er habe die Sensibilität für Stimmungen in der Bevölkerung zurückgewonnen. Doch nach dem Beschluss, das unrentable ICC zu sanieren, drängt sich ein ganz anderes Bild auf: Wie ein gebranntes Kind das Feuer, scheut die rot-rote Landesregierung neuerdings den Umbau der Stadt. Auch da, wo er notwendig ist. Selbst dann, wenn es Millionen Euro kostet.
Dabei war der Senat lange auf dem richtigen Weg. Nicht nur die Linkspartei, auch SPD-Fraktionschef Michael Müller hatte einst für den Abriss des ICC plädiert. Dann aber verließ die Rot-Roten ihr fast schon traditioneller Mut zur Radikalität - aus Angst vor den radikalen Traditionalisten im Westteil der Stadt.
Diese Angst ist so groß, dass der Senat selbst den Vorwurf, die architektonische Tradition von Ost und West unterschiedlich zu pflegen, als zweitrangig betrachtet. Selbst die Sanierung des Landeshaushalts, einst oberstes Ziel der rot-roten Koalition, hat keinen Wert mehr.
Statt eine der gigantischsten Fehlplanungen aus der Westberliner Angeberära in die Luft zu jagen, schmeißt der Senat nun mit beiden Händen die nicht vorhandenen Millionen zum Fenster hinaus. Nicht nur beim Umbau. Sondern auf Dauer. Zudem werden weiterhin völlig überdimensionierte Hallen und Flure klimatisiert. Die Stromkonzerne hätten am Dienstag allen Anlass gehabt, eine Magnumflasche Champagner zu köpfen.
Dass ausgerechnet die Grünen den Erhalt des Energiefressers ICC begrüßen, dass zudem das Westalgie-Bollwerk CDU ein Ökokonzept für die Dampflok unter den Kongresszentren fordert, könnte man als Abstrusitäten am Rande abtun. Doch sie zeigen, dass die nackte Angst der rot-roten Kuscher vor der Westalgie nicht unbegründet ist. Denn Rationalität hat derzeit weder im Senat noch auf den Oppositionsbänken Platz.
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