Kommentar: Speed für den Volkskörper
■ Fall Mehmet: Rechtsstaatliche Prinzipien werden verletzt
Das Bayerische Verwaltungsgericht hat mit seinem Beschluß in Sachen Abschiebung von Muhlis A. alias Mehmet zwar nicht im Namen des Volkes, wohl aber des gesunden Volksempfindens gesprochen. Sollte dieser Beschluß Bestand haben, dann vergessen wir am besten die wenigen Bestimmungen des Ausländergesetzes zum Schutz vor Abschiebung. Dann sagen wir einfach: „Jeder Ausländer, der Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik beeinträchtigt, wird ausgewiesen!“
Man muß schon in die fünfziger Jahre zurückgehen, um ein Justizdokument zu finden, das sich derart unverfroren über rechtsstaatliche Prinzipien hinwegsetzt. Das Ausländergesetz legt fest, daß ein minderjähriger Straftäter, dessen Eltern sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, nur ausgewiesen werden kann, wenn er Serientäter war bzw. mehrere oder eine besonders schwere Straftat begangen hat – und rechtskräftig verurteilt wurde. Letzteres schied bei Muhlis aus, weil er bis Juli dieses Jahres noch nicht strafmündig war. Kein Problem für den Bayerischen Volksgerichtshof: Man entzieht den Eltern einfach die Aufenthaltsberechtigung und macht damit die Schutzvorschrift hinfällig.
In welcher schwerwiegenden, eine Ausweisung rechtfertigenden Weise haben die Eltern von Muhlis gegen Sicherheit und Ordnung verstoßen? Sie haben laut Beschluß ihre Fürsorge- und Erziehungspflichten verletzt, sie haben nicht „mit Nachdruck auf ihren Sohn eingewirkt, um dessen kriminelles Auftreten zu verhüten bzw. zu unterbinden“. Übergehen wir die archaische Vorstellung elterlicher Gewalt, die diesen Passus prägt, und schweigen wir auch darüber, daß sich allein im Bereich des Münchener Polizeipräsidiums 57 mit Muhlis vergleichbare minderjährige Intensivtäter finden. Halten wir einfach fest: Selbst die überaus schwammige, zum beliebigen behördlichen Ermessen einladene Ausweisungsbestimmung des Ausländergesetzes trägt einen solchen Kausalitätsbogen nicht. Denn wer ausgewiesen werden soll, muß selbst Sicherheit, Ordnung oder erhebliche Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt haben.
Gerade haben Kohl, Stoiber, Schröder und (nach einem Spätstart) Schily zum Schlußspurt angesetzt, um auszumachen, wer von ihnen am besten den deutschen Volkskörper vor kriminellen ausländischen Jugendlichen schützt. Herzlichen Glückwunsch nach München zum legalen Dope! Christian Semler
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