Kommentar: Skepsis und Aufbruch
■ 1999 wird für Berlin das entscheidende Jahr
Das alte Jahr hatte sich gerade erst verabschiedet, da schielten schon alle aufs Jahr 2000. Doch nicht 2000, sondern das unscheinbare 1999 wird für Berlin das entscheidende Jahr. Es wird für die Stadt eine der größten Veränderungen seit 1945 mit sich bringen. Mit dem Regierungsumzug ist Berlin nicht nur formal die Hauptstadt Deutschlands, sondern wird tatsächlich zum politischen Machtzentrum. Einen ähnlich hohen Symbolwert hatte nur der Mauerfall – dessen Folge der Umzug ist, genau zehn Jahre danach.
Beide Ereignisse werden oft in einem Atemzug genannt. Dabei sind sie recht verschieden. Die Mauer fiel völlig überraschend und veränderte die Stadt gravierend. Die Westberliner saßen plötzlich nicht mehr auf der „Insel“. Die Ostberliner wurden mit einem neuen Lebensstil und einem anderen Staat konfrontiert. Mit wieviel Emotionen ist noch zehn Jahre danach die Erinnerung an den 9.November verbunden.
Der Regierungsumzug läuft dagegen im Schneckentempo ab. Bis zum Juli werden acht Jahre der Vorbereitung vergangen sein. Mit Spannung werden „die Bonner“ an der Spree erwartet – von Gefühlsausbrüchen war bisher nicht viel zu merken. Das Leben in der Stadt wird sich ändern – wie, ist noch nicht greifbar. Doch werden Veränderungen weniger gravierend sein als 1989.
Nicht nur der Regierungsumzug macht das angebrochene Jahr zu einem besonderen für Berlin. Auch die Abgeordnetenhauswahlen im Oktober 1999 könnten zur Zäsur werden: Noch nie standen die Chancen so gut, die CDU durch Rot-Grün abzulösen. Die Stadtpolitik könnte ganz neue Impulse erhalten – allerdings ist der Spielraum des Senats so eng wie nie zuvor. Das liegt nicht nur an der leeren Landeskasse. Der Bund wird sich in Berliner Angelegenheiten einmischen. Bei Entscheidungen, die das Image Berlins berühren, wie die innere Sicherheit oder die Baupolitik, dürfte Bundeskanzler Schröder am längeren Hebel sitzen. Ein neuer Senat wird daher geschickt agieren müssen, um Bürger- und Bundesinteressen auszubalancieren. 1999 wird viel in der Stadt verändern. Gesunde Skepsis kann nicht schaden. Ein wenig Aufbruchstimmung aber auch nicht. Jutta Wagemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen