Kommentar: Herz in der Brieftasche
■ Deutschland übernimmt für sechs Monate die EU-Präsidentschaft
Europapolitik hat ihre eigenen Regeln. Auch wenn Deutschland seit gestern für ein halbes Jahr den EU-Vorsitz innehat, ist damit keine deutsche „Führungsrolle“ verbunden. Anders als in der deutschen Bundesregierung gibt es keine „Richtlinienkompetenz“. Denn die europäische Präsidentschaft ist kein Wahlamt, sondern rotiert nach festgelegtem Turnus. Das Vorsitzland ist vor allem Mittler und Makler, es muß Kompromißmöglichkeiten ausloten und entsprechende Pakete schnüren. Hat es zuviel eigene Ziele, kann es leicht scheitern. Wer wie einst John Major vor einem EU-Gipfel erklärt, „an erster, zweiter und dritter Stelle“ seiner Europapolitik kämen britische Interessen, braucht sich nicht zu wundern, daß in wichtigen Fragen keine Kompromisse gefunden werden.
Denselben Fehler scheint nun auch Kanzler Schröder machen zu wollen. Kurz vor Beginn seiner Amtszeit hat er getönt, in der EU würde zuviel deutsches Geld „verbraten“. Und konsequenterweise belastet er nun auch die Verhandlungen um die „Agenda 2000“ mit dem Streit um die deutsche „Nettobelastung“. Bei der Agenda 2000 sollen die agrar- und strukturpolitischen Ausgaben der EU so reduziert und umgebaut werden, daß eine Erweiterung um osteuropäische Staaten überhaupt möglich ist.
Das allein ist schon schwierig genug und benötigt einen Makler, der sein Herz bei der Sache und nicht in der eigenen Brieftasche hat. Von Schröder wird man da wohl nur wenig erwarten können, doch auch Außenminister Fischer, eigentlich als europäischer Visionär und legitimer Nachfolger des alten Kanzlers gehandelt, hat bisher kaum Konstruktives beigetragen.
Will Deutschland die EU wirklich voranbringen, so muß es eine bescheidene Präsidentschaft ausüben. Und vor allem muß es als Mitgliedsstaat manche Weichenstellung neu vornehmen. Wenn etwa Finanzminister Oskar Lafontaine „unfairen Steuerwettbewerb“ eindämmen will, dann muß die Einstimmigkeit in der europäischen Steuerpolitik fallen, ein bisher auch von Deutschland unterstütztes Dogma. Und bei der Einführung europäischer Energiesteuern könnte Deutschland eine weitaus flexiblere Rolle einnehmen als unter der alten Bundesregierung.
Beides sind Projekte, die den Horizont von sechs Monaten übersteigen. Ein Grund mehr, die deutsche Präsidentschaft nicht zu hoch zu hängen. Christian Rath
Bericht Seite 5
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