Kommentar: Zivile Ziele
■ Will die Nato einen Aufstand gegen Milosevic herbeibomben?
Seit Tagen hört man auf jeder Nato-Pressekonferenz, daß Serbien unmittelbar vor einem Aufstand gegen das Miloevic-Regime steht. Und das zeige, wie wirksam die Nato-Strategie ist. Als Beweise für die Revolte werden die Proteste von einigen hundert Eltern in der Provinzstadt Kruevac im Süden Serbiens angeführt, die ihre wehrpflichtigen Söhne aus dem Kosovo zurückhaben wollten, und der Protestbrief des Bürgermeisters von Cacak in Zentralserbien, der sich für die Einstellung des Krieges einsetzte.
Doch in Serbien gibt es nach zwei Monaten Krieg nicht die geringsten Anzeichen für einen Massenaufstand oder einen organisierten Protest gegen Miloevic. Erstens weiß jeder, der sich ein wenig in Serbien auskennt, daß es nur auf die Stimmung in Belgrad ankommt und daß Proteste in der Provinz dem Regime nicht gefährlich werden können. Zudem handelt es sich um Einzelfälle – um verstreute Gesten der Auflehnung in einem Meer patriotischer Gefühle. Bestenfalls könnte man behaupten, daß die Begeisterung für die Verteidigung des Vaterlandes verblichen ist und einer endlosen Apathie Platz gemacht hat. Denn die meisten Menschen brauchen ihre Energie, um ihren Alltag zu bewältigen und ihre Ängste zu überwinden. Da bleibt keine Kraft für Massenproteste. Vor allem solange das Land von einem übermächtigen Außenfeind ohne Kriegserklärung systematisch bombardiert und zerstört wird.
Doch die Nato-Strategen sehen das anscheinend anders. Die Luftangriffe der vergangenen Tage waren hauptsächlich gegen das Stromnetz in Serbien gerichtet, das beim besten Willen nicht als ein militärisches Ziel bezeichnet werden kann. Es kann nur als eine absichtliche Peinigung der Zivilbevölkerung gedeutet werden. Im Nato-Hauptquartier glaubt man offenkundig, daß die immer schlechteren Lebensbedingungen in Serbien der Zünder für eine Rebellion des Volkes werden. Die Bürger Serbiens sollten einsehen, daß eigentlich Miloevic und nicht die Nato dafür verantwortlich ist, daß ihnen Licht, Wasser und Brot fehlen.
Miloevic mag verantwortlich für die Tragödie der Kosovo-Albaner sein. Doch für die systematische Zerstörung eines ganzen Landes, für das Quälen der Zivilisten aller Volksgruppen in Serbien ist die Nato ebenso verantwortlich. Andrej Ivanji
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