■ Kommentar: Ehrlichkeit der Frommen Kirchentag: Abschied von der Fundamentalopposition
Kirchentage verstehen sich, seit es sie gibt, als „Zeitansagen“. Denn diese größte christliche Laienversammlung der Bundesrepublik konnte und wollte immer politische und gesellschaftliche Trends zum Ausdruck bringen. Auch der Stuttgarter Kirchentag hat die Befindlichkeit der Republik präzise gespiegelt: Die offenkundig politischen – traditionell linksalternativ grundierten – Veranstaltungen litten unter müden Debatten, mehr noch: am Desinteresse des Publikums.
Zur Erinnerung: Seit Anfang der achtziger Jahre gefiel sich das Kirchentagspublikum in Fundamentalopposition zur Realpolitik, ohne sich von Ansprüchen nach differenzierter Sichtweise irritieren zu lassen. Aber das fiel nicht weiter auf, weil die ethische und politische Gegnerschaft zu einer christliberalen Regierung definiert wurde. Jetzt, da die Wunschkoalition der Kirchentage regiert, sind aus Fundamentalisten wie im wirklichen Leben Realisten geworden. So sehr, daß pazifistische Denkweisen – parallel zur Entwicklung bei den Grünen – fast als ungemütliche Störungen empfunden wurden.
Skeptisch macht hierbei zunächst, daß dieser Frieden mit der Bundeswehr unter einer christliberalen Regierung, wenn es sie noch gäbe, gewiß nicht geschlossen worden wäre: Insofern deutet der Stimmungswandel auf dem Kirchentag kein Resultat von Meinungsänderungen, von Debatten und Streits an, sondern vor allem eine Depolitisierung der alternativen Szene durch die grün-rote Regierungsbeteiligung selbst. Und zwar schlicht nach dem Motto: Die sind irgendwie besser als die anderen, da halten wir lieber den Mund. Das darf als vorauseilender Gehorsam bezeichnet werden, mehr noch: als defensive Frömmelei, die jede politische Äußerung danach abklopft, ob sie der jetzigen Regierung nützt.
Darüber hinaus war der Kirchentag innerlich geneigt. Die Bibelarbeitskreise, vor allem die der friedensbewegten Dorothee Sölle, waren stark nachgefragt – sie hätten mühelos auch größere Hallen füllen können. Offenbar wissen die linken und alternativen Strömungen im deutschen Protestantismus auch nicht mehr, was – wenn Sozialismus schon nicht funktioniert – eine Antwort auf den Kapitalismus sein könnte. In solchen ratlosen Zeiten zieht man sich auf das Innere zurück. Das mag resignativ sein, ist aber wenigstens ehrlich. Jan Feddersen
Bericht Seite 4
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