Kommentar: Bonn lebt ewig
■ Der Bundestag verabschiedet sich von der Ex-Hauptstadt
Wer, zum Teufel, spielt jetzt auch noch „Freude, schöner Gotterfunken“? Unweit des Bundestages blasen irgendwelche Abschiedsdussel auf ihren Trompeten Beethovens Neunte. Als seien der Trennungstränen nicht genug geflossen.
In Bonn quoll gestern der Abschied aus allen Ritzen und Reden. Der neue Bundespräsident: Es war die Rede, die man von Johannes Rau immer schon befürchtet hatte: brav und bedacht, politisch vorsichtig und vor allem ungeheuer maßvoll. Nur in extremen Ausnahmefällen gehe es um alles oder nichts, so umriß der Frisch gewählte sein politisches Credo. Und es sei besser, kleine Schritte wirklich zu gehen, als darüber zu klagen, daß die Menschen sich für den großen Wurf nicht begeistern könnten.
So wenig inspirierend sich solche Sätze anhören, so gut passen sie zum Abschied der Republik von ihrer früheren Hauptstadt. Ausgleich, Konsens und Maßhalten – die alte Bundesrepublik war das Land des Sowohl-Als-auch. Kaum etwas hat diese Republik stärker gekennzeichnet als die Werte des freundlichen Mittelmaßes: In der Rückschau stellt sich die Bonner Republik als fünfzigjähriges Eiapopeia dar.
„Nicht kleinmütig und auch nicht übermütig“, wünscht sich Rau das umgezogene Deutschland – und stieß gestern auf ein begeistertes Echo. „Behalten wir Augenmaß!“ rief Helmut Kohl ins Weiherund des Plenarsaals, wo demnächst Zahnarztkongresse stattfinden dürfen. „Tun wir ganz einfach unsere Pflicht!“ (Und auf keinen Fall, bitte, nehme einer das Wort von der Berliner Republik in den Mund! Wen wundert's? Wer den Begriff Berliner Republik ablehnt, ist meistens schon über 40 und verspricht sich nicht mehr viel davon.)
Rau und Kohl waren sich einig. „Aktive Nachbarschaftshilfe“, „ehrenamtliches Wirken in Vereinen“, „Gemeinsinn und Solidarität“ – das gesamte Repertoire von Vokabeln, wie Kohl sie liebte, war gestern auch vom neuen Bundespräsidenten zu hören.
Was auch immer also manche an Fährnissen nach dem Umzug fürchten: Als guter Geist von Bonn wird Johannes Rau den Schutzengel der Berliner Republik spielen. Im Verein mit Helmut Kohl, dessen 130 Kilo mit umziehen, bildet er den Doppeladler der neuen Republik. Im Wappen steht dann der Spruch: Bonn lebt ewig. Patrik Schwarz
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen