Kommentar: Sand in die Augen
■ Russlands Premier schließt einen Krieg in Dagestan aus
Russlands Premier Sergej Stepaschin hätte einiges dafür gegeben, seine beschauliche Rundreise durch die Wolga-Region fortsetzen zu können. Dass er jetzt, nebst der russischen Militärspitze, auf Anordnung von Präsident Boris Jelzin zu einem Feuerwehreinsatz in die Kaukasusrepublik Dagestan geschickt wird, heißt nur eins: Wieder einmal ist die Lage dort hochexplosiv.
Dabei war der Ausbruch der schwersten Kämpfe zwischen russischen Truppen und islamistischen Rebellen in der Region seit Ende des Krieges in Tschetschenien nur eine Frage der Zeit. Jetzt rächt sich, dass sich die Moskauer Regierung seit dem von Ex-General Alexander Lebed 1996 zusammengezimmerten Friedensschluss hartnäckig geweigert hat, die Realitäten in Tschetschenien zu sehen.
Die nämlich sind eindeutig: Obwohl die Regelung der Statusfrage bis nach der Jahrtausendwende vertagt wurde, hat Moskau die Kontrolle über die aufmüpfige Republik längst eingebüßt. Anstelle russischer Gesetze regiert in Tschetschenien das Chaos. Der Versuch des gemäßigten und kompromissbereiten Präsidenten Aslan Maskhadow, durch die Einführung der Scharia den Extremisten Einhalt zu gebieten, kann getrost als gescheitert betrachtet werden.
Dass sich der tschetschenische Milizführer und ärgster Widersacher Maskhadows, Schamil Bassajew, an die Spitze der Rebellenoffensive gestellt und mit Dagestan gerade die Nachbarrepublik Tschetscheniens zum Operationsgebiet für seine regionalen Islamisierungspläne auserkoren hat, ist kein Zufall. Während des Tschetschenienkrieges wurde Dagestan, einer Geisel gleich, mehrfach bewusst in die bewaffneten Auseinandersetzungen hineingezogen. Heute ist die Lage in der Vielvölkerrepublik, deren Führung sich stets als integraler Bestandteil der Russischen Föderation definierte, aufgrund der wirtschaftlich katastrophalen Lage instabil wie nie zuvor.
Wenn Russlands Premier jetzt einen Krieg ausschließt, streut er der Bevölkerung Sand in die Augen. Stepaschins Rhetorik erinnert nur zu gut an vergangene Zeiten. Auch in Teschetschenien ging es darum, „den Banditen“ den Garaus zu machen. Das Ergebnis ist bekannt: ein mehrjähriger Krieg mit rund 40.000 Toten und die Gefahr, Teile des Kaukasus zu verlieren. Die ist nach diesem Wochenende größer denn je. Barbara Oertel
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