■ Kommentar: Das Wurschtel-Gesetz Rot-grüner Rückzug bei den Scheinselbstständigen
Sozialgesetze sind neuerdings immer Großversuche. Experimente am zunehmend labilen Gefüge aus Solidarität und Schummelei, aus denen der Sozialstaat heute besteht. Für diese Versuche gibt es keine Probephase. Denn wie wollen Sozialpolitiker vorhersehen, ob am Ende Betroffene ihre Jobs tatsächlich verlieren oder dies nur eine Drohung der Arbeitgeber war, ob tatsächlich mehr Geld in die Sozialkassen oder nur mehr Geld in die Schwarzarbeit fließt? Wer Sozialpolitik macht, muss sich gleich in den Ernstfall begeben – und kann dann nur abwarten, wie die Sache ausgeht.
Zwei Experimente dieser Art hat Sozialminister Walter Riester gewagt. Eines dieser Experimente ist die Neuregelung der 630-Mark-Jobs. Der zweite Versuch war das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit.
Dieses Gesetz wird jetzt in weiten Teilen wieder eingeschränkt. Die Empfehlungen der von der Regierung eingesetzten Kommission sollen präzisiert und dann in einen neuen Gesetzentwurf gegossen werden: Wer als Honorarkraft für nur einen Auftraggeber jobbt, darf dies erst mal in Ruhe drei Jahre lang tun, bevor er in die Rentenkasse einzahlen muss. Firmen, in denen von Betriebsprüfern Scheinselbstständige entdeckt werden, müssen keine Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen. Dies soll vielen Auftraggebern und Honorarkräften die Angst nehmen, irgendwann mal in die Pflicht genommen zu werden. Das Damoklesschwert, unter dem sich viele Freiberufler und ihre Auftraggeber wähnten, wird damit von Riester eigenhändig abgehängt. Das hat Folgen.
Die jetzt noch verbleibenden Regelungen lassen den Beteiligten, allen voran den Arbeitgebern, mehr Freiraum: Freiraum zum Schummeln. Warum soll es ein Unternehmen nicht mal drauf ankommen lassen mit seinen Scheinselbstständigen, wenn keine Nachzahlung droht? Und wenn die arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen erst mal drei Jahre lang in Ruhe gelassen werden von den Sozialkassen, dann ist das ein gutes Angebot für die Berufseinstiegsphase.
Nun kommt also ein Gesetz zum Durchwurschteln in einem Schummelstaat, in dem Auftraggeber und Honorarkräfte quasi gemeinsame Sache machen. Mehr Gesetz ist nicht drin. Darüber soll sich dann aber auch niemand beklagen.
Barbara Dribbusch
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