■ Kommentar: Wendezeit in Wien Überdruss an der rot-schwarzen Fadheit half Haider
Seit dem Krieg regieren Rot und Schwarz über Österreich, meistens miteinander. Die Mehrzahl der Wähler kennt gar nichts anderes als einen sozialdemokratischen Bundeskanzler. Die Suche nach eigener Identität nach dem Zusammenbruch des habsburgischen Vielvölkerreiches führte durch Hyperinflation, Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg zum Anschluss an Hitlerdeutschland. Nach 1945 wurde die Zweite Republik von den beiden großen Parteien (nebst KPÖ) aufgebaut. Stabilität war das oberste Gebot. Politischer Proporz, Postenschacher und Parteibuchwirtschaft waren die Begleiterscheinungen dieser Politik. Die Aufbruchszeit der Jahre unter Bruno Kreisky ist längst vorbei. Der Wohlstand, der unter Rot-Schwarz seit 1986 konsolidiert wurde, wird als selbstverständlich hingenommen. Da nützt es nichts, dass Österreich als drittreichstes Land innerhalb der EU ausgewiesen wird, dass Kriminalität und soziale Unruhen, die andere Staaten plagen, hier weitgehend unbekannt sind. Die Traditionsparteien SPÖ und ÖVP stehen für Stagnation, sind schlicht und einfach langweilig. Vor allem für die Jungwähler bieten sie wenig Anziehendes.
Nach einem Jahr rot-grüner Regierung in Deutschland dürfte diese Alternative in Österreich auch Anhängern der beiden Parteien als Horrorvision erscheinen. Außerdem sind die Grünen nur so etwas wie die besseren Sozialdemokraten, die noch Menschenrechte, Frauenpolitik und Umweltstandards hochhalten, wo die SPÖ sich unter Hinweis auf Sachzwänge längst vom Parteiprogramm verabschiedet hat. Ihr Einsatz für die Integration von Ausländern macht die Grünen für viele suspekt.
Einen echten Wechsel verspricht am überzeugendsten Jörg Haider, der als Erster begriffen hat, dass es in der Mediengesellschaft nicht auf den Inhalt, sondern auf die Inszenierung ankommt. Auch wenn er weniger dazugewonnen hat, als manche Umfragen vorhersagten, so hat er doch deutlich dazugewonnen: Der Trend ist nicht zu übersehen. Und gegenüber der Angst vor einem unberechenbaren Bundeskanzler, der vom Ausland wie weiland Präsident Kurt Waldheim geschnitten wird, hat die Fadheit des Altbekannten die Oberhand gewonnen. Ob Jörg Haider wirklich jemals Kanzler wird, ist keineswegs sicher. Aber er war der Verwirklichung seines Wunschtraums nie näher als jetzt. Ralf Leonhard, Wien
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