Kommentar: Nicht lernfähig ■ Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern weiter ungerecht
Wenn unsere Politiker Grundwerte bemühen, empfiehlt sich geschärfte Aufmerksamkeit. Dieser Tage äußerte Graf Lambsdorff im Interview: „Es entspricht einem Grundgefühl von Gerechtigkeit, dass man Leistungen, die bereits erbracht worden sind, bei neuen Leistungen berücksichtigt.“ Der Gerechtigkeitsdiskurs des Grafen betrifft die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Wer früher schon Leistungen, zum Beispiel als KZ-Häftling nach dem Bundesentschädigungsgesetz, erhalten hat, muss jetzt deren „Anrechnung“ befürchten. So bestimmt es wie der alte auch der neue Entwurf zum Stiftungsgesetz. Dass damit zwei unterschiedliche Sachverhalte, die Inhaftierung in Lagern und die Ausbeutung als Zwangsarbeiter, vermischt werden, stört das Gerechtigkeitsempfinden des Grafen nicht. „Vollständig angerechnet“ würden frühere Zahlungen nicht, beeilte sich Lambsdorff hinzuzufügen. Vielen Dank auch! Bekanntlich ist alles relativ, und die KZ-Opfer und die anderen Verschleppten können sich damit trösten, dass die in der Landwirtschaft „Eingesetzten“ überhaupt nichts erhalten werden.
Uns wird immerzu versichert, unsere Zukunft hinge von unserer Lernfähigkeit ab. Gemessen an diesem Kriterium haben sich die Finanzministerialen auch beim zweiten Gesetzentwurf als absolut zukunftsuntauglich erwiesen. Denn neben der „Anrechnung“ taucht auch die zweite Generalregel zur Entschädigung wieder auf: der Verzicht auf weitere Ansprüche – auch wenn die überhaupt nichts mit der Zwangsarbeit zu tun haben.
Besonders für die bislang nicht entschädigten Opfer der „Arisierung“ von Grundstücken und Vermögenswerten während der Nazizeit sind die Zumutungen auch des zweiten Entwurfs nicht hinnehmbar. Jetzt rächt es sich, dass dieser Komplex in die ursprüngliche Stiftungsinitiative aufgenommen wurde, statt ihn separat zwischen den Arisierungsgewinnern und ihren Opfern auszuhandeln.
Natürlich ist es schwer, gegenüber allen Opfergruppen Gerechtigkeit anzustreben. Aber Abwägungen, die diesem Ziel dienen, sollten die Zahlungsgrenzen nicht nach unten, sondern nach oben verschieben. „Gerechtigkeit als Fairness“ – Lambsdorff sollte sich gegenüber der Theorie von John Rawls als lernfähig erweisen. Schließlich ist der auch Liberaler.Christian Semler
Bericht Seite 6
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