Kommentar zu tunesischen Flüchtlingen: Wenn der Diktator fehlt
Die Diktatoren, die halfen, das Tor Europas weiter zu schließen, sind weg. Wenn Europa Stabilität will, muss es sich um die Prosperität der Länder Nordafrikas kümmern.
G uido Westerwelle will den Tunesiern helfen. Richtig bemerkt unser Außenminister, die jungen Menschen dort seien nicht nur für Freiheit, sondern auch für Arbeitsplätze auf die Straße gegangen. Dann setzt er mit der Aufforderung nach, sie mögen gefälligst zu Hause bleiben.
Und ebendies macht sein Hilfsangebot einigermaßen verdächtig. Es scheint, wie so oft, von einigermaßen selbstsüchtigen Kalkülen geleitet zu sein: von dem Interesse, die tunesische genauso wie die anderen Regierungen am Südufer des Mittelmeers als zuverlässige Partner bei der Abschottung der Festung Europa auf der eigenen Seite zu wissen.
Schließlich nützt die ganze europäische Aufrüstung im Mittelmeer recht wenig, wenn die Länder Nordafrikas nicht mitspielen. Das zeigt sich gerade jetzt in Tunesien: Kaum ist unser alter, zuverlässiger Partner Ben Ali weg, stechen die Boote in See. Ben Ali allerdings musste sich über all die Jahre nie Mahnungen anhören, er lasse es an Demokratie mangeln oder er nutze europäische Hilfe dafür, den Wohlstand des eignen Clans zu mehren. Schließlich garantierte er jenes Gut, das "uns Europäer" faktisch weit mehr interessierte als Demokratie und Prosperität in Tunesien: die Stabilität - bei der Islamistenabwehr im Innern, vor allem aber an den Außengrenzen.
ist Italien-Korrespondent der taz.
Damit ist es nun plötzlich vorbei. Und niemand weiß zurzeit, was aus Ägypten, was aus Algerien wird. Zehntausende Menschen aus den Ländern Nordafrikas, Zehntausende zudem aus Schwarzafrika, die die Mittelmeeranrainer als Transitstaaten nutzen, könnten sich demnächst auf den Weg nach Europa machen.
Es ist wohl eher diese Furcht, die Westerwelle umtreibt, als ehrliche Sorge um die Zukunftsaussichten der womöglich entstehenden arabischen Demokratien, um die Zukunftsaussichten auch der jungen Tunesier oder Ägypter. Es wird nicht damit getan sein, mit humanitärem Anstrich versehene Hilfen an Regime zu geben, die dann die europäischen Polizeiaufgaben gleich bei sich zu Hause erledigen. Wenn Europa im eigenen Interesse Stabilität will, dann muss es sich nicht bloß verbal, sondern ganz real um die Prosperität jener Staaten kümmern. Denn die Diktatoren, die es so einfach machten, das Tor Europas immer dichter zu schließen, stürzen nicht zuletzt, weil der Jugend alle Perspektiven abhandengekommen sind. Wenigstens dies, so scheint es, hat Westerwelle erkannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen