Kommentar Wahl des neuen Grünen-Chefs: Riskante Kampfkandidatur

Der Wettstreit zwischen dem "anatolischen Schwaben" Özdemir und dem ursprünglich linken Berliner Anwalt Ratzmann könnte zum parteihistorischen Sieg der Realos werden.

Natürlich ist so eine Kampfkandidatur eine feine Sache. Unter demokratischen Gesichtspunkten ist es zu begrüßen, dass die Grünen Realos jetzt zwei Kandidaten für den Posten des Zweit-Parteichefs neben Claudia Roth ins Rennen schicken. Die Grünen sollen auf dem Parteitag im November eine Wahl haben. Das allein ist schon eine Menge wert.

Denn an dem Wettlauf Volker Ratzmann gegen Cem Özdemir entlang wird sich vieles diskutieren lassen. Etwa, für welche Inhalte die Realogrünen eigentlich stehen. Schließlich kann man nicht monatelang nur mit den wiederkehrenden Phrasen zitiert werden, wonach die Grünen sich von der SPD lösen und in alle Richtungen koalitionsfähig sein müssen. Interessanter ist schließlich, mit welchen Positionen Ratzmann und Özdemir beim linken Flügel werben wollen.

Hier nämlich beginnt das Problem, das die grünen Realos sich mit der Kampfkandidatur einhandeln. Unter parteistrategischen Gesichtspunkten ist da ein Haken. Wenn das Votum des Realo-Flügels auf dem Parteitag gespalten ist, entscheiden die Linken und die Ungebundenen, wer Realo-Vertreter im Parteivorsitz wird. Ein Bundesvorsitzender, der nur mit Ach und Krach und knapp über 50 Prozent ins Amt kommt, wird außerdem nicht sofort die allergrößte Integrationswirkung entfalten. Darum bescheren Parteien ihren Chefs ja normalerweise die DDR-mäßig hochprozentigen Siege.

Wenn die Grünen Realos nun solch ein strategisches Risiko eingehen, zeigt das einerseits, dass sie sich zu spät und zu schlecht organisiert haben. Andererseits könnte die Kampfkandidatur aber auch der Beweis werden, dass die Realos imstande sind, die Grenzen des Flügeldenkens zu sprengen - zulasten der Parteilinken. Gibt es bis zum Votum auf dem Parteitag einen fairen Wettstreit zwischen dem "anatolischen Schwaben" Özdemir und dem ursprünglich links beheimateten Berliner Anwalt Ratzmann, konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Partei von selbst auf die Zwei. Ihr Kampf geriete zur Mitte der Partei. Ob geplant oder nicht - die Überwindung der Flügel würde ein parteihistorischer Sieg der Realos.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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