Kommentar Verhaftungswelle in Türkei: Eskalation zum Prozessauftakt
Von einer Deeskalation zwischen Kemalisten und Islamisten ist nichts zu spüren. Jetzt werden elf Verfassungsrichter entscheiden müssen, ob das Land in ein Chaos abrutscht.
M it dem gestrigen Plädoyer des Generalstaatsanwaltes vor dem Verfassungsgericht in Ankara hat die finale Phase im Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP begonnen. Mit welchen harten Bandagen mittlerweile gekämpft wird, zeigt die Verhaftungswelle gegen 24 AKP-Gegner pünktlich zum Prozessauftakt. Ihnen wird vorgeworfen, in Vorbereitungen zu einem Putsch gegen die Regierung verwickelt zu sein. Beide Seiten schenken sich nichts, von einer Deeskalation zwischen Islamisten und Kemalisten, wie sie von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gefordert wurde, ist nichts zu spüren.
Jürgen Gottschlich ist Türkei-Korrespondent der taz und lebt in Istanbul.
Es liegt nun im Wesentlichen an elf Verfassungsrichtern, darüber zu entscheiden, ob die Konfrontation auf die Spitze getrieben wird und das Land durch Partei- und Politikverbote für die amtierende Regierungsspitze in eine Chaosperiode mit völlig ungewissen Ausgang abrutscht oder nicht. Auch wenn alle möglichen unterschiedlichen Kräfte versuchen, auf den Ausgang des Verfahrens einzuwirken, das letzte Wort haben nun die Richter.
Im Kern sind das Verfahren und die damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen Teil eines großen, weltweit einmaligen Experiments: eine Gesellschaft, deren Mitglieder überwiegend gläubige Anhänger des Islam sind, mit der Trennung von Staat und Religion, mit Gewaltenteilung und individuellen Freiheiten zu versöhnen, ohne dass ein Teil der Gesellschaft dem anderen seine Vorstellungen gewaltsam überstülpt. Dass dabei die Fetzen fliegen, ist nicht verwunderlich, denn es stehen sich oft grundsätzlich unterschiedliche Lebensauffassungen gegenüber.
Die Gefahr, dass dieser Konflikt in Gewalt ausartet, ist ständig präsent. Doch solange es gelingt, ohne Waffen zu streiten, solange die Armee sich heraushält und die andere Seite die existierenden staatlichen Institutionen respektiert, wird sich Schritt für Schritt ein neues Kräftegleichgewicht entwickeln. Das wird noch Jahre dauern, könnte aber letztlich für den Nahen Osten und Europa gleichermaßen ein wichtiges Modell werden.
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