Kommentar Verfall der türkischen Lira: Talfahrt in die Armut
Erdoğans Megaprojekte täuschten Prosperität vor, belasteten aber den Haushalt. Wer das jetzt thematisiert, riskiert viel.
S eit Freitag beschwört Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die türkische Bevölkerung: „Wir befinden uns in einem Wirtschaftskrieg.“ Und: „Wir sind alle im gleichen Boot.“ So jedenfalls seine Interpretation des freien Falls der Lira.
Je weiter das Boot sinkt, umso mehr trifft es jene, die sich am untersten ökonomischen Rand der Gesellschaft befinden. Vor zwei Wochen kosteten 5 Kilo Tomatenmark, ein Grundnahrungsmittel in der Türkei, 18 Lira. Heute 48 Lira. Auch der Preis für Olivenöl hat sich verdoppelt. Nach Angaben des Arbeitsministeriums leben seit Dezember 2017 inzwischen 12 von 29 Millionen Arbeitnehmern mit einem monatlichen Einkommen zwischen 1.404 und 2.808 Lira (175 und 351 Euro).
Je mehr die türkische Lira an Wert verliert, desto teurer werden importierte Waren und solche, die importierte Anteile haben. Ihr Preis steigt teilweise um das Dreifache. Diese Entwicklung treibt mindestens 12 Millionen Menschen noch weiter in die Armut – ganz zu schweigen von mehr als 3 Millionen Menschen, die keine Arbeit haben.
Bisher konnte die AKP die arme Bevölkerung mit militaristischen oder religiösen Parolen gegen vermeintliche innere und äußere Feinde mobilisieren. Auch gegen den wirtschaftlichen Zusammenbruch bemühte Erdoğan seine altbewährte Rede vom Krieg und sprach davon, dass die Türkei vereint diesen „Wirtschaftskrieg“ gewinnen werde. Dabei ist der eigentliche Grund für die Krise Erdoğans eigene Wirtschaftspolitik.
Menschen sollen zu ihrer Armut schweigen
Megaprojekte wie die dritte Brücke über den Bosporus und der Kanal Istanbul, der parallel zum Bosporus gegraben werden soll, täuschen Prosperität vor und belasten die Staatskasse. Mit ihrer Erzählung, allen Wohlstand beschert zu haben, hat die AKP die Menschen in die Verschuldung getrieben. Alle nahmen Kredite in Dollar auf, die sie nun wegen des Kursverfalls nicht zurückzahlen können. Seine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik bringt Erdoğan nun in Bedrängnis.
Das sollte man in der Türkei besser nicht zu laut sagen: Gegen jene, die zur Sprache bringen, was für eine Katastrophe wir gerade erleben, hat die Regierung bereits den Kampf eröffnet. Das Innenministerium verkündete, dass es Ermittlungen gegen 346 Social-Media-Accounts eingeleitet habe, die „die den Kursanstieg in provokanter und aufmerksamkeitserregender Art“ kommentieren.
Bald könnten Sätze wie „Wir können uns kein Brot mehr leisten“ zum Straftatbestand werden. Eins ist sicher: Millionen von Menschen, die jeden Tag ärmer werden und davon abgehalten werden sollen, ihre Armut zur Sprache zu bringen, haben den „Wirtschaftskrieg“ sowieso schon seit Langem verloren.
Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle und Volkan Ağar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau