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Kommentar TürkeiStarker Mann als Auslaufmodell

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Kompromisse galten im türkischen Politbetrieb bisher als Niederlagen. Nun hat ausgerechnet Erdogan einen epochalen Wandel eingeleitet.

Tayyip Erdogan hat grad erfahren, dass er ein Auslaufmodell ist Bild: ap

D er angekündigte Sturm auf den Gezi Park ist ausgeblieben, die Revolte der türkischen Zivilgesellschaft hat einen ersten großen Erfolg errungen. Ministerpräsident Erdogan sah sich zuletzt doch gezwungen, mit Vertretern der Protestbewegung direkt zu reden und er musste wichtige Zugeständnisse machen. Eine Nacht, die mit einer martialischen Räumungsdrohung begann, endete um 4:00 Morgens mit einem Kompromiss.

Erdogan nahm seine Räumungsdrohungen zurück, er sagte zu, den gerichtlich verhängten Baustopp am Gezi Park zu respektieren und den Park insgesamt so lange nicht anzurühren, wie nicht eine endgültige Gerichtsentscheidung vorliegt.

Was sich wie eine Selbstverständlichkeit anhört, ist in der Türkei ein großer Erfolg. Es gibt etliche prestige-und oder renditeträchtige Bauprojekte, bei denen die Regierung sich über Gerichtsbeschlüsse hinweggesetzt hat. Und sogar gegen überzogene Polizeigewalt soll nun ermittelt werden.

Bild: taz
Jürgen Gottschlich

ist Türkei-Korrespondent der taz.

Völlig unabhängig was aus den Zusagen Erdogans nun praktisch erfolgt, der symbolische Wert dieser Zugeständnisse an die revoltierende Zivilgesellschaft ist gar nicht zu überschätzen. Politik in der Türkei war und ist Politik der starken Männer. Kompromisse gelten als Niederlagen, erst recht bei Erdogans Machostil, den er bislang herauskehrte.

Die letzte Nacht könnte einen Neuanfang markieren und als Zeichen in die türkische Geschichte eingehen, dass Kompromisse, auch in der Auseinandersetzung zwischen der Regierung und aufbegehrenden Teilen der Bevölkerung, keine Schande sind sondern zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft gehören. Die neue Türkei zeigt ihr GESICHT.

Noch ist unklar, wie es auf dem Gezi Park selbst weitergeht. Die in der Taksim Plattform zusammengeschlossenen Bürgerinitiativen werden heute Abend eine Erklärung abgeben wie sie sich das weitere Vorgehen vorstellen. Erst einmal aber scheint Entspannung angesagt.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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19 Kommentare

 / 
  • RB
    Rainer B.

    @ sybill

     

    Politik und Geld sind zwei Seiten einer Medaille. Das ist in der Türkei nicht anders als sonstwo auf der Welt. Solange ein paar Prozent der Menschen über den Großteil des Besitzes verfügen und der Rest sich die Krümmel unterm Tisch teilen muss, bleibt Demokratie nur ein frommer Wunsch. Was die Länder unterscheidet, ist lediglich die Größe der Krümmel.

  • J
    JadotA

    Die Analyse vom Türkolog wehrte fast zwei Tage.

    Immerhin.

  • S
    sybill

    Schlimm was gerade in der Türkei passiert. Nachdem erst gar keiner darüber informierte, wird in vielen Medien nur noch darüber berichtet. Und auch deutsche Medien fühlen sich veranlaßt, ihren Beitrag zu leisten. Der Taksimplatz ist ein Auslöser dessen geworden, was in vielen Herzen und Köpfen schon lange schwelte und sich jetzt einen Weg bahnt.

     

    War das alles nicht vorhersehbar?? Die massiven Eingriffe in die Lebensumstände der Menschen in der Türkei? Geht ja schon lange so. Staatseigentum wird verkauft, seit Jahren, oder privatisiert. Einfach verscheuert, unter dem Wert. Ein Referendum wird gewonnen, positiv in Brüssel bewertet und gerade das legt den Grundstein der jetztigen Politik. Ein Bidunggesetz wird verabschiedet, was junge Menschen zu folgsamen Schafen erziehen soll. Nicht ungeschickt, wie ein Herr Erd. seine Stellung nutzt. Aber das nicht erst seit Taksim so, schon viele Jahre ist das so und nur wenige haben es ernst genommen, auch die deutschen Medien und Politik nicht. Die Türkei hat keine Reserven mehr, alle "lieben und guten" Geschäftsleute einschließlich der Familie Erd. sind gut versorgt und abgesichert, die Gesetzte wurden zu ihren Gunsten geändert, damit, wenn doch alles schief geht ihnen nichts oder nur wenig passiert. Das Land lebt nicht aus eigenen Mitteln, ausländisches Geld erhält die Wirtschaft am Leben, sie leben auf Pump. Niemand interessiert die Bilanzen des Staates oder hinterfragt sie. Hochverschuldung!

    Die Menschen werden, ähnlich wie in Amerika, dazu gezwungen auf pump zu leben. Kreditkarten hat jeder, meist 2-3 und kann sie nicht decken. Der wirtschaftliche Zusammenbruch wird kommen, eine Frage der Zeit.

    Ich begrüße den Aufstand sehr und wünsche - Haltet durch-. Doch sollte einmal mehr auf andere Inhalte, wie Finanzen und Ökonomie geschaut werden.

  • CA
    Can Aria

    Erdo-gone und seine Berater imitieren den Werdegang von Adolf Hitler.. Fehlt nur noch der Reichstag-Brand, um das Parlament aufzulösen.. Kurz er war/ist ein Diktator !

  • ZS
    zwei Seiten

    Ich kann es nicht als Sieg der Demonstranten sehen, sondern das der Druck (Kritik) auf Erdogan zu groß wurde. Er will ja um jeden Preis in die EU und wie er und seine Glaubensbrüder sich geben , hat er keine Chane (die man ihm auch niemals geben darf).

     

    Wie Erdogan sich in den letzten Tagen zeigte, wird er jetzt ein wenig Zeit verstreichen lassen, dann zieht er seine Vorhaben durch.

  • R
    rumy

    Woher haben Sie die Information, dass Erdogan sich gezwungen sah, Treffen mit der streikenden Gruppe zu vereinbaren?

    Dass Kompromisse als Niederlage gesehen werden, kann ebenfalls nicht formuliert werden. Am Tag des Treffens hat Staatspräsident Abdullah Gül sich darüber geäußert und erwähnt, dass Erdogan im positiven Sinne sich persönlich mit einigen Vertretern treffen wird, um sich ein genaueres Bild davon machen zu können.

  • MK
    Marco, Klugscheißer

    @Ugur

     

    Herr Erdoğan ist der türkische Ministerpräsident

    (vgl. Kanzlerin Merkel)

     

    Türkischer Präsident ist Abdullah Gül!

    (vgl. Bundespräsident Gauck)

  • T
    Temo

    Das Zitat mit den "Bajonetten und Kuppeln und so", stammt nicht von Ministerpräsident Erdogan, sondern von Ziya Gökalp, einem "Vorreiter des Kemalismus". Herr Erdogan ist nicht so ein begnadeter Dichter wie Ziya Gökalp. Er hat es mal auf einer Wahlveranstaltung von der AKP erwähnt um den Kemalisten von der CHP zu zeigen, wo sie eigentlich herkommen. Gerade die früheren Militärs und die CHP haben die Islamischen Kräte im Land unterstützt um die Kurden an den Staat zu binden. Jetzt gaben sie die Suppe. Die CHP kommt gerade Mal auf 23% der Wählerstimmen und diese Minderheit schreibt in der Türkei jeden vor wie sie zu leben haben. Manchmal mit einem Militärputsch und jetzt der "Inszenierung" "Gezi-Park".

     

    In der Argumentation vieler Erdogan-Gegner werden leider "Richtigkeit" und "Falschheit" durcheinander gebracht. Einiges stimmt, vieles ist so mal behauptet. Gerüchte eben.

     

    Was mir auch auffällt ist, dass in der Türkei seit 30 Jahren ein erbitter Krieg tobte, zwischen der kurdischen Minderheit und dem Türkischen Staat und dazu tauchte, ab und zu mal ein Artikel in den hiesigen Zeitungen auf, vielleicht einmal im Monat, wenn es hoch kommt und jetzt wo es um ein Paar Bäume im Istanbuler Park geht, steht nichts mehr darüber, ganz im Gegensatz dazu steht fast die ganze Welt für den Gezi-Park auf. Wer wollte eigentlich zuletzt den Konflikt mit den Kurden lösen. Ach ja, die AKP mit Herrn Erdogan und jetzt kommt die Istanbuler Schikeria und protestiert gegen ein Alkohol-Verbot ab 22 Uhr. Ich glaube, ich bin in einem falschen Film. Mir kommen die Tränen auch ohne CS-Gas.

  • RB
    Rainer B.

    Ein beachtlicher Teilerfolg der türkischen Protestbewegung, bei dem Staatspräsident Gül eine ähnliche Vermittlerrolle gespielt haben dürfte, wie Heiner Geißler bei Stuttgart 21.

     

    Gül ist Oberbefehlshaber der Armee in Friedenszeiten und konnte an einer Eskalation kein Interesse haben. Das Militär steht fest in der Tradition Atatürks, der ja für eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche stand, das Osmanische Reich zerschlug und damit den Grundstein für die moderne Türkei gelegt hatte. Auch ein Erdogan kann an diesem Militär nicht vorbei.

     

    Ähnlich wie in Stuttgart wird sich an den Bebauungsplänen in Istanbul aber wohl kaum etwas ändern.

  • H
    Hafize

    Erdogan ist einfach kein Demokrat, sondern jemand, der eine temporäre Diktatur auf 50 Prozent-Mehrheiten aufbauen will. Ich finde, es reicht! Yeter!

  • U
    Ugur

    Die Türkei mischt sich nicht in deutsche Angelegenheiten ein, also kann man es auch erwarten das Deutschland unseren Präsidenten in Ruhe lässt!

  • S
    scattering

    Uja schrieb:

    Zitat aus Wikipedia:

    „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

    – Recep Tayyip Erdoğan_

     

    Habe auch zufällig ein anderes interresantes Zitat gefunden, wenn auch von einem anderen Politiker, der glaube ich auch mal ein Land regiert hat

    Zitat aus Wikipedia:

    „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“

    -Konrad Adenauer-

     

    --> Ergo: was interresiert mich das Gewschwätz von Erdogan von gestern.

  • J
    jerryreed

    Eigentlich total realitätsfern, was sich die deutsche Journaille, vor allem die linksgerichtete, da zusammen träumt und schreibt.

     

    In der Türkei wird gar nichts passieren, außer der fortschreitenden Islamisierung. Die Mehrheit der Türken will das auch so.

     

    Die paar sogenannten "aufgeklärten" Tausend, die da protestiert haben, sind eine verschwindend kleine Minderheit, die zudem auch noch total nationalistisch sind (wie fast jeder Türke).

     

    Habt Ihr gesehen, wie viele Türkei Flaggen und Türkei Shirts auf den Demos getragen wurden, nicht zu sprechen von den Atatürk Motiven, also von einem Mann, der 1 Million Armenier auf dem Gewissen hat.

  • N
    NO-Erdogan

    Im Land wo die Kopftücher blühn...nein, wie romantisch, taffe Frauen, möchte ich sagen, die sich sowohl eigenen Karrierewünschen als auch dem gesellschaftspolitischen Druck der Erzkonservativen zu beugen wissen. Wenn sie Erfolg haben, schön, ein hart umkämpfter Erfolg!

    Ich schlage ein Frau als E-Nachfolge vor, sehen wir, wie demokratisch-freiheitlich die Türkei wirklich ist.

  • S
    stop

    Die inneren Angelegenheiten der Türkei sind ... innere Angelegenheiten. Davon völlig unberührt ist die Frage, inwiefern türkische Verbandsfunktionäre in Deutschland ihre Interessen durchsetzen. Und hier sage ich nur:

    STOP!!! NOW!!!

  • U
    Uja

    Zitat aus Wikipedia:

    „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

    – Recep Tayyip Erdoğan_

  • M
    Marodeur

    Kompromiß heisst doch für gewöhnlich, dass zwei Seiten in einem Konflikt auf einander zugehen und sich Zugeständnisse machen. Ich lese hier aber nur von minimalen Zugeständnissen der Regierung. Es geht nicht daraus hervor, welche Zugeständnisse die Protestbewegung gemacht hat.

     

    Davon abgesehen stellt sich die Frage, ob die Gesprächspartner, die nach meinem Wissensstand von Erdogan selbst ausgewählt wurden, überhaupt repräsentativ für die Protestbewegung sind? Wie sinnvoll ist es, mit jemandem zu verhandeln, der Stunden davor noch martialische Reden schwingt und mit gewaltsamer Räumung des Taksimplatzes droht? Auf echte Gesprächsbereitschaft deutet das ja nicht gerade hin.

  • VV
    Vorsicht, vorsicht

    Ich schätze die Aufstände in der Türkei sabotierten, bewusst oder unbewusst, übergeordnete Pläne, die auch sehr mit Syrien und Iran zusammenhängen. Wieder mal geht es um das Tafelsilber im gesamten Raum östlich der Türkei. Wir erinnern uns, wie das British Empire im Verbund mit der Hochfinanz das Osmanische Reich anfang des 20 Jhd. zerschlug und sich an die Ausbeutung der Ressourcen heranmachte. Übrig blieb die Türkei. Profiteur waren Firmen wie später BP (British Oil)genannt, Esso usw. Man bedenke zu einer Zeit, in der die Industrie und Schifffahrt immer mehr auf Öl umstellte...Die Aufstände kamen nun dazwischen, wer weiß, welche Rolle den Türken unter Erdogan noch zugekommen wäre - Waffen wurden über die türkische Grenze ja längst rübergeschmuggelt. Nun blasen die US-Boys schon verstärkt zu einer offensiven Intervention in Syrien. Gründe finden sich wieder einmal wie seinerzeit im Irak (übrigens auch einst ein Hort britischer Interessenspolitik) - lang vor Hussein... All die Länder in der Region, vor allem Iran, wurden wohl zu selbstbewusst. Profite mit dem Öl lassen sich nicht mehr in dem Maß erzielen wie einst. Also muss man in dem gesamten Raum mal wieder für Ordnung sorgen. Und da bläst man ins Horn der Menschenrechte, schürt Ängste und Sorgen, teils berechtigt, teils aber auch auf eine Politik zurückzuführen, die im 20 Jhd. die gesamte Gegend, wo sich Öl schöpfen ließ, einfach als Selbstbedienungsladen britischer, amerikanischer und auch französischer Interessen genutzt wurde. Bleibt nur zu hoffen, dass Deutschland sich so gut wie möglich aus kriegerischen Handlungen heraushält. Bei Madame Merkel bin ich mir da nicht so sicher - ich mein, die Grillfeste mit einem gewissen George Double U sind mir noch in Erinnerung und die Reise nach Amerika um dafür zu werben, dass nicht alle Deutschen so denken wie ein Herr Schröder und gegen eine Irakintervention sind...Also nicht dass sich wieder irgendein Zusammenhang mit Österreich findet, zumindest das erste Mal ist von einer Alleinschuld der Deutschen ja nicht zu sprechen, was selbst noch so verblendete Historiker offen diskutieren. Nicht dass aus allen "guten Dingen" drei werden, nicht wahr? Und wenn, dann bitte ohne der Beteiligung Deutschlands...

  • P
    PRO-Erdoğan

    Wen hätte denn die "türkischen Zivilgesellschaft", wie sie unisono in der deutschen Medienlandschaft tituliert wird, gern an Erdoğan's Stelle? Die Protestbewegung ist sicher nicht die türkische Zivilgesellschaft. Dennoch ist sie ein Meilenstein für die Demokratie in der Türkei. Die Proteste sind Ausdruck der Agilität und Gemeinschaftssinn der Türken. Gott bewahre, die Türken finden Ihren eigenen Weg ihr Land für Liberale wie für Konservative liebenswert zu machen. Ein Land wo die Karrierefrau Kopftuch trägt oder es eben sein lässt. Nahe liegend, dass der konservative alte Kontinent, der auf Austerität schwört da zittrig wird.