Kommentar Türkei: Starker Mann als Auslaufmodell
Kompromisse galten im türkischen Politbetrieb bisher als Niederlagen. Nun hat ausgerechnet Erdogan einen epochalen Wandel eingeleitet.
D er angekündigte Sturm auf den Gezi Park ist ausgeblieben, die Revolte der türkischen Zivilgesellschaft hat einen ersten großen Erfolg errungen. Ministerpräsident Erdogan sah sich zuletzt doch gezwungen, mit Vertretern der Protestbewegung direkt zu reden und er musste wichtige Zugeständnisse machen. Eine Nacht, die mit einer martialischen Räumungsdrohung begann, endete um 4:00 Morgens mit einem Kompromiss.
Erdogan nahm seine Räumungsdrohungen zurück, er sagte zu, den gerichtlich verhängten Baustopp am Gezi Park zu respektieren und den Park insgesamt so lange nicht anzurühren, wie nicht eine endgültige Gerichtsentscheidung vorliegt.
Was sich wie eine Selbstverständlichkeit anhört, ist in der Türkei ein großer Erfolg. Es gibt etliche prestige-und oder renditeträchtige Bauprojekte, bei denen die Regierung sich über Gerichtsbeschlüsse hinweggesetzt hat. Und sogar gegen überzogene Polizeigewalt soll nun ermittelt werden.
Völlig unabhängig was aus den Zusagen Erdogans nun praktisch erfolgt, der symbolische Wert dieser Zugeständnisse an die revoltierende Zivilgesellschaft ist gar nicht zu überschätzen. Politik in der Türkei war und ist Politik der starken Männer. Kompromisse gelten als Niederlagen, erst recht bei Erdogans Machostil, den er bislang herauskehrte.
Die letzte Nacht könnte einen Neuanfang markieren und als Zeichen in die türkische Geschichte eingehen, dass Kompromisse, auch in der Auseinandersetzung zwischen der Regierung und aufbegehrenden Teilen der Bevölkerung, keine Schande sind sondern zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft gehören. Die neue Türkei zeigt ihr GESICHT.
Noch ist unklar, wie es auf dem Gezi Park selbst weitergeht. Die in der Taksim Plattform zusammengeschlossenen Bürgerinitiativen werden heute Abend eine Erklärung abgeben wie sie sich das weitere Vorgehen vorstellen. Erst einmal aber scheint Entspannung angesagt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!