Kommentar Tibet nach Olympia: Schluss mit den Kotaus
Die Führung Chinas ist mit sich und den Spielen zufrieden. Das bietet die Chance, die Tibet-Frage erneut zu verhandeln. Den NGOs kann die entspanntere Situation nur nützen.
L ange Zeit hieß es, Olympia sei die letzte Chance für Tibet, eine wirkliche Autonomie durchzusetzen. Dem ist nicht so. Die Zeit nach den Spielen bietet einige Perspektiven - vorausgesetzt, China gibt seine Blockade auf und Europa verabschiedet sich von seiner Politik des Kotaus.
Wie zu erwarten, waren am Ende alle zufrieden, auch wenn IOC-Chef Jacques Rogge einräumte, sein Verband "könne nicht alle Krankheiten der Welt heilen". Die chinesische Führung hatte besonderen Grund zum Strahlen: klarer Sieg im Medaillenspiegel, kein nachgewiesener Dopingfall in den eigenen Reihen, keine Protestaktion, die den Sport in den Schatten gestellt hätte. Für ein paar Nadelstiche immerhin sorgten vor allem Tibet-Aktivisten mit der verbotenen Nationalfahne oder einem illuminierten "Free Tibet"-Plakat vor dem Vogelnest.
Die Situation in Tibet selbst hat sich jedoch nicht verbessert. Das "Tibetan Centre for Human Rights and Democracy" berichtet, dass alle Mönche während der Spiele unter Hausarrest standen und die Klöster streng bewacht wurden, um Protest-Manifestationen zu verhindern. Kleine Demonstrationen in Ost-Tibet wurden niedergeschlagen.
Trotzdem: Die Zufriedenheit, die Chinas Führung nach den Spielen ausstrahlt, könnte eine Chance für Tibet sein. Die KP hat den erwünschten Propaganda-Erfolg eingefahren. Sie wird in der nächsten Zeit nicht mehr so im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen wie in den vergangenen Jahren und kann sich entspannen. Gelegenheit genug, sich an ihren ideologischen Vater Deng Xiaoping zu erinnern, der mit Blick auf Tibet gesagt hat: "Wir können über alles reden, nur nicht über die Unabhängigkeit." Mit dieser Haltung befindet er sich viel näher an der Position des Dalai Lama, als die Rhetorik der chinesischen Führung glauben machen will.
Auf die Frage, warum es dennoch bislang zu keiner einvernehmlichen Lösung der Tibet-Frage gekommen ist, antworten Sinologen zumeist mit einem Hinweis auf die Psyche "der Chinesen". Die Führung fürchte, so sagen sie, bei echten Konzessionen gäben sich die Tibeter nicht mehr mit einer substanziellen Autonomie zufrieden, sondern forderten im Anschluss die Unabhängigkeit. Das wiederum würde die gleichen Begehrlichkeiten bei Uiguren und Mongolen wecken und damit zum der Zerfall der Volksrepublik führen. Die Sowjetunion und Jugoslawien ließen grüßen.
Mag sein, dass diese Angst in den Köpfen mancher Funktionäre sitzt, doch eine reale Basis hat sie nicht. Bei der Sowjetunion etwa war schon die demografische Situation eine ganz andere. Am Ende der 80er-Jahre lebten dort nicht einmal mehr 50 Prozent Russen; und in Jugoslawien war der Anteil der dominierenden Serben noch geringer. Im chinesischen Staatsverband stellen dagegen etwa 94 Prozent "Han-Chinesen", über alle ideologischen Unterschiede hinweg, die staatliche Einheit nicht infrage.
Konfliktlösungen aus allen Teilen der Welt belegen, dass echte Autonomie das sicherste Mittel gegen Sezessionsbestrebungen ist. Die Erfahrungen reichen von Südtirol bis Irakisch-Kurdistan; von Quebec über das Baskenland bis ins indonesische Aceh. Der Westen hat daher die Möglichkeit und auch die Verantwortung, China davon zu überzeugen, dass echte Autonomie für Tibet nicht das Ende der Volksrepublik bedeutet. Im Gegenteil, China würde sogar an internationaler Reputation gewinnen. Umgekehrt könnten sich die Tibeter nicht einfach über eine international anerkannte Vereinbarung hinwegsetzen und weitergehende Forderungen stellen, wollen sie ihre weltweiten Sympathien nicht verlieren.
Aber die europäischen Regierungen müssen sich auch selbst von einer Angst befreien - von der Angst, die chinesische Führung mit der Tibet-Frage ein für alle Mal zu verärgern. "Wer den Kotau vollzieht, wird nicht geachtet", lautet eine alte Weisheit im Umgang mit den chinesischen Herrschern. In diesem Sinne wäre es durchaus im Interesse Europas, eine Politik zu betreiben, bei der die Tibeter als eigenständige Konfliktpartei behandelt werden. Unter den gegebenen Bedingungen ist es nicht möglich, die Tibeter in Tibet einzubeziehen, doch dafür ist allein Chinas Führung verantwortlich. Damit bleiben die Repräsentanten im Exil. Dann aber ist der Dalai Lama nicht nur eine religiöse Persönlichkeit, die westliche Politiker hin und wieder treffen, um moralische Fragen zu erörtern, sondern er ist auch das Oberhaupt einer Gemeinschaft, der das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird und deren Status zumindest offen ist.
Nicht nur Tibet-Freunde bestreiten, dass China einen legitimen Rechtsanspruch auf Tibet erheben kann. Auch zahlreiche Völkerrechtler verneinen dies, darunter der gewiss über jeden Verdacht der Parteilichkeit erhabene Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags. Das gebetsmühlenartige Bekenntnis "Tibet sei ein integraler Bestandteil Chinas", orientiert sich indessen allein an der Macht des Faktischen, nicht aber an völkerrechtlichen Grundsätzen. Wenn der Dalai Lama darauf verzichtet, das Recht auf Selbstbestimmung in Form staatlicher Unabhängigkeit umsetzen, dann ist das ein großes Entgegenkommen, das von der westlichen Welt sehr viel stärker als solches wahrgenommen und China vermittelt werden muss.
Würde diese Vermittlungsarbeit geleistet, dann würden sich auch die Perspektiven für den tibetisch-chinesischen Dialog verbessern, der im Oktober wieder aufgenommen werden soll. Bisher haben die 2002 mit großen Erwartungen begonnenen Gespräche keinerlei Auswirkungen auf die Situation in Tibet gezeigt. Deshalb werfen viele Tibeter China vor, ihm gehe es bei den Gesprächen nur darum, die Kritik an der Tibet-Politik zum Verstummen zu bringen. Vonseiten der EU wurde vor den Konsultationen ernsthaft erwogen, einen Tibet-Beauftragten zu ernennen; das Geld war bereits bewilligt. Ein solcher Koordinator hätte nicht nur dafür sorgen können, dass Europa in Sachen Tibet mit einer Stimme spricht; es wäre auch ein starkes Signal an Peking gewesen, dass Tibet der EU am Herzen liegt. Die China-Lobby innerhalb der EU hat den Tibet-Beauftragten schließlich verhindert. Auch die Regierung Schröder votierte strikt dagegen. Das Argument lautete, die Dialogbereitschaft der Führung in Peking dürfe durch einen solchen Schritt nicht gefährdet werden. Jetzt ist es an der Zeit, die Initiative wieder aufzugreifen und einen EU-Tibet-Beauftragten zu ernennen.
Doch woran es bislang mangelt, ist das Interesse an der konkreten Situation in Tibet. Die EU erweckt häufig den Eindruck, dass es ihr bei der Menschenrechtsfrage vor allem darum geht, gegenüber China moralisch zu punkten, ohne natürlich die Regierung zu vergraulen. Diesem seltsamen Spagat können nur die Unterstützergruppen entgegenwirken. Sie müssen weiter die internationale Öffentlichkeit mobilisieren. Den ungelösten Tibet-Konflikt jetzt erst recht auf die Agenda der Politik zu setzen, ist ihre Aufgabe.
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