piwik no script img

Kommentar TeilhabegesetzZu hohe Erwartungen

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Das Bundesteilhabegesetz enttäuscht viele Menschen. Entscheidend aber wird die Praxis sein – und vielleicht wird noch größerer Protest nötig.

Reicht das oder braucht es noch mehr? Protest gegen das Teilhabegesetz am Donnerstag Foto: dpa

B linde schwimmen in einer Protestaktion in der Spree, Rollstuhlfahrer ketten sich an. Der Protest gegen das Bundesteilhabegesetz, das jetzt in erster Lesung im Bundestag beraten wurde, ist hochemotional. Denn hier geht es um Menschen, die in der größtmöglichen Abhängigkeit vom Staat leben: Sie sind in ihrer unmittelbaren physischen Existenz auf zupackende Hilfe angewiesen, auf bezahlteAssistenzen.

Der Staat entscheidet letztlich darüber, ob sie in der eigenen Wohnung leben können oder aus Kostengründen ins Heim geschickt werden, ob sie eine AssistentIn erhalten, die eine Arbeit ermöglicht oder ob sie zum Nichtstun und zur Isolation verurteilt sind. Menschen mit Behinderungen sind aufgrund dieser Abhängigkeit hochsensibel für mögliche Verschlechterungen, die sich einstellen könnten durch ein neues Gesetz.

Das Bundesteilhabegesetz ist kein Spargesetz, sondern mit Mehrkosten verbunden. Doch es bietet für mögliche Verschlechterungen mehrere Einfallstore: Aufgrund der neuen Definition von „Behinderung“ könnten zum Beispiel bestimmte Gruppen von Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen werden. Assistenzleistungen könnten „gepoolt“ werden, so dass sich Behinderte einen Helfer für bestimmte Aktivitäten mit anderen Gehandicapten teilen müssten.

Und viele Erwartungen hat das Gesetz nicht erfüllt: bei Menschen mit Behinderungen, die Hilfe zur Pflege bekommen und nicht erwerbstätig sind, wird Einkommen und Vermögen auch eines Partners wie bisher mit der Sozialleistung verrechnet, unter Gewährung bestimmter Freibeträge. Genau dies gilt aber auch für alte Ehepaare, wenn ein Partner ins Pflegeheim muss, und für Haushalte im Hartz-IV-Bezug.

Die Kriterien waren immer heikel

An diesem Beispiel zeigen sich die Probleme jeder Behindertenhilfe: Man kann den horizontalen Vergleich mit anderen Bedarfsgruppen nicht außer Acht lassen. Es stimmt natürlich, Menschen mit schweren Handicaps sind schicksalsbetroffener als andere, ihre Partner leisten meist schon sehr viel unbezahlte Arbeit in der Betreuung und hätten eine völlig Freistellung ersparter oder ererbter Vermögen verdient, quasi als Schicksalsausgleich. Aber die Kriterien dafür wären immer heikel.

Die Praxis in den Sozialbehörden wird zeigen, ob die Einfallstore im Gesetz für Verschlechterungen genutzt werden oder nicht. Ob Behinderte zum Beispiel weiterhin bei den Eltern ausziehen und eine Ausbildung machen können oder nicht. Das Gesetz verspricht mehr Teilhabe. Wenn das Rad in der Praxis aber zurückgedreht werden sollte, dann brauchen wir einen breiteren Protest.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Ergänzung - Gegenstück:

    Allerdings: Was in einem modernen Menschenbild „Schicksalsbetroffenheit“ bedeuten soll – wonach sie zu bemessen wäre und ob daraus politisch etwas folgt – ist schon konzeptuell (!) unklar. Ebenso wie die näheren Konsequenzen aus der Beobachtung, dass „Behinderung (potentiell) jeden (Menschen) treffen“ könnte. Zur Diskussion: Wie passen die Rechte von Menschen, die zuerst –unabdingbar dringend – Unterstützung brauchen, um (annäherend) als Gleiche unter Gleichen agieren zu können, in eine gerechte Gesellschaft? Wie gestalten wir die Schnittstellen zwischen Behindertenrechten und anderen Zielsetzungen einer freiheitlichen Gesellschaft? Naturschutz, Arbeiterrechte, Kultur-/Bildungspolitik, Ressourcen-Sparsamkeit, Entwicklungsziele, Denkmalschutz, sind alle in sich bereits abzeichnenden Fragen von Behinderungsthemen berührt. – (Dies wären eigene Essays.) Hier ist (gesamt-)gesellschaftliches Nachdenken (und Entscheiden) gefordert: Kein Abwarten und keine ungefähre, rein prinzipielle Menschenrechtsrhetorik.

  • Es ist im Sinne einer demokratischen Debatte richtig und bedeutsam, dass die taz Positionen zwischen der Regierungspolitik und der protestierenden Behindertenbewegung auslotet, abseits des Plakativen. Dass die Kolumne dabei an relevanten sozialen Fakten ebenso vorbeiläuft wie an neueren Theorie-Diskursen über „Behinderung“ ist bedauerlich.

     

    Assistenz durch Lebensgefährten: Hier wird unausgesprochen vorausgesetzt, dass Assistenzbedürftige vor allem durch ihre PartnerInnen mit Assistenz versorgt würden. Paare, in deren Beziehung Behinderung eine Rolle spielen muss, handhaben dies aber durchaus unterschiedlich – eben nicht zuletzt, um wenigstens etwas (!) mitgestalten zu können, welchen Raum die Behinderung in ihrer Beziehung einnimmt. Im Übrigen ist der Rechtsträger, um den es geht, zuvorderst der behinderte Mensch. Paradigmenwechsel: Es ginge ja vielmehr darum, ihn aus der Rolle als „Sorge-Erwachsenen“ etwaiger PartnerInnen herauszulösen und ihm Gestaltungsspielräume in Beziehungen zu eröffnen. Nicht diskutierenswert? Auf die (Mit-)Verantwortung behinderter Familienmitglieder als Familienmitglieder geht die Kolumne dann gar nicht erst ein.

     

    Ein schneller Blick auf sozialrechtliche Literatur – und Lebenspraxis – zeigt übrigens, welche Schwierigkeiten bei der Auslegung und Duchsetzung von Recht(en) diesbezüglich bereits heute bestehen. Dass Rechtsnormen sich nicht selbst vollziehen, sondern von Sachbearbeitenden umgesetzt werden, die von Ort zu Ort und je nach Situation höchst unterschiedlichem Druck ausgesetzt sind, macht die Sache nicht besser – zumal es sich meist um komplexe „Sachlagen“ handelt, die behinderte Persönlichkeiten sehr persönlich betreffen. Warum im Vagen warten?

  • Fortsetzung:

     

    Aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass nicht nur JournalistInnen behinderte Menschen gerne auf das reduzieren, was ihr vermeintliches Manko ist, die Behinderung. Dann wird das Menschsein weggelassen und heraus kommen "die Behinderten".

     

    Diese werden, so mein Eindruck, dann viel zu häufig als eine eigene Spezies verstanden, die "mit uns" [hier: nichtbehinderte Menschen] ja nichts gemein hat. Das sind eben andere!

     

    Tatsächlich - und das ist die eigentliche Wahrheit - kann es aber jedeN von uns betreffen. Es gibt keine Garantie auf Nichtbehinderung, erst recht nicht im Alter. Es sollte sich also jedeR überlegen, ob sie oder er auch morgen noch bestimmen möchte, wann man aufsteht, was man isst, oder wer einem für die Hygiene zwischen die Beine greifen darf!

  • "Menschen mit schweren Handicaps sind schicksalsbetroffener als andere..."

     

    Frau Dribbusch, was für ein gruseliger Satz! Behindert zu sein ist kein Schicksal, sondern einfach eine Form von Leben. Und uns in der Selbstbestimmung und Lebensführung zu behindern ist ebefalls kein Schicksal, sondern Diskriminierung und neuerdings auch Ignoranz gegen die Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

     

    Dass ich das Wort "Handicap" nicht verwende, liegt schlicht in dessen Ursprung: the cap in the hand - betteln. Es war zwar tatsächlich ein Privileg, dass eine ganze Zeit lang im Mittelalter nur behinderte Menschen betteln durften, aber ironisch muss man ergänzen: sie mussten es ja auch!

     

    Heute weiterhin in die BittstellerInnenrolle gedrängt zu werden, ist jedoch kein Schicksal, sondern Absicht. Wer ein Bundesteilhabegesetz mit Der Absicht der Kostendeckelung erstellt, muss sich nicht wundern, dass das vorne und hinten nicht reicht.

     

    Sie haben übrigens einen weiteren Aspekt völlig ausser Acht gelassen: behinderte Menschen im Hartz-IV-Bezug sind ebenso wie nichtbehinderte BezieherInnen den Regeln des SGB II unterstellt. Ihr Versuch, durch Querverweise unsere Forderungen zu diskreditieren, taugt also nicht.

  • Was hier ausgeblendet wird: Menschen im Hartz IV-Bezug können mit einer Arbeitsaufnahme oder einem Jobwechsel mit besserer Vergütung an ihrer Situation etwas ändern und verbessern.

     

    Behinderte Menschen mit Assistenzbedarf können das nicht. Beispiel: eine nichtbehinderte Richtern kann sich selbstverständlich ein Auto kaufen, einen Urlaub bezahlen oder fürs Alter vorsorgen. Eine rollstuhlnutzende Richterin mit Assistenzbedarf kann dies alles nicht.

     

    Auch Frau Dribbusch weiss, dass behinderte Menschen an ihrer Behinderung nichts ändern können, also eigentlich gar keine Zielgruppe der Sozialhilfe sind, nimmt man die Intention des Gesetzes ernst. Im Artikel werden eindeutig Äpfel mit Birnen verglichen!

  • Sozialbehörden und Krankenkassen werden alle Möglichkeiten kosten zu verhindern auch nutzen, das läuft jetzt schon so, dafür muss nicht abgewartet und nachgeschaut werden.