Kommentar Sonderparteitag der Grünen: Politur fürs Grünen-Image
Die Basis ist nicht vor dem Vorstand eingeknickt. Sondern sie hat mit offenem Visier den Streit ausgefochten. So bleibt die Partei attraktiv für die WählerInnen der Mitte.
D ie Parteiführung hat sich beim Atomausstieg durchgesetzt. Das ist die oberflächliche Deutung dessen, was die Grünen am Samstag auf ihrem Parteitag beschlossen haben. Dahinter wird deutlich: Die Grünen gewinnen durch ihre öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Kernfrage mehr, als sie durch eine Zustimmung zum schwarz-gelben Ausstiegsplan verlieren.
Die Mehrheit der Delegierten ist dem Antrag des Bundesvorstands gefolgt. Kommende Woche wird die Bundestagsfraktion also Ja sagen zur Abschaltung der letzten Atomkraftwerke im Jahr 2022. Das ist fünf Jahre später als noch vor drei Monaten von der Partei gefordert. Damit ist die Basis jedoch nicht vor dem Bundesvorstand eingeknickt. Sondern sie hat mit offenem Visier den Streit um ihr Kernthema ausgefochten. Auf offener Bühne, mit zwischenzeitlich offenem Ausgang.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es bestätigt und stärkt das Image der Partei als Ort, in dem gesellschaftliche Debatten ausgefochten werden – und dieses Image trügt nicht einmal. Damit wirken die Grünen weiterhin attraktiv auf Wählerinnen und Wähler der Mitte, die das leicht Andersartige der Partei schätzen, aber empfindlich reagieren auf scheinbaren oder tatsächlichen Dogmatismus. Andererseits vermeidet die Partei den Eindruck, sie sei opportunistisch.
MATTHIAS LOHRE ist Parlamentsredakteur der taz.
Aus diesem Kampf trägt kein Beteiligter tiefe Wunden davon: Der unter Parteilinken ungeliebte Jürgen Trittin kann sich gestärkt fühlen, denn sein Kurs hat gewonnen. Parteichefin Claudia Roth hat es geschafft, dass Linke und Realos einander nicht zerfleischen. Schwarz-grüne Koalitionen bleiben, auch wenn darüber kaum ein Grüner gern redet, weiterhin möglich. Und die Anti-Atom-Bewegungen können sich nicht darüber beklagen, sie habe niemand gefragt.
Natürlich werden sich einige abwenden von den Grünen. Doch ein Riss wie noch 2001, als der rot-grüne Atomkonsens entstand, steht den Grünen nicht bevor. Die Partei ist seither mittiger geworden. Die Zeit spielt für die Grünen: Der Einfluss der Bewegungen auf die Partei wird abnehmen, sobald der Atomausstieg beschlossen ist.
Genug Probleme haben die Grünen dennoch: Sie müssen nun alles dafür tun, dass sich in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck verfestigt, auch ihnen sei das Hauptthema abhanden gegangen. Die Konkurrenz mit der Anti-Atom-Bewegung ist vorüber. Die Konkurrenz mit den selbsterklärten neuen Ökoparteien CDU, CSU und FDP hat gerade erst begonnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück