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Kommentar SicherungsverwahrungRealistische Perspektive

Kommentar von Kai Schlieter

Rechtssicherheit gilt auch für einen verhassten Personenkreis. Wir müssen diese Menschen ertragen, die Frauen vergewaltigt oder Kinder ermordet haben. Auch in Freiheit.

W er es bevorzugt, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben und nicht etwa in Libyen oder Nordkorea, kann nur zu einem Schluss kommen: Das Urteil aus Karlsruhe war zwingend und überfällig. Die irrationale Steigerung der präventiven Haft in den letzten Jahren war eine gesellschaftlich goutierte Aushöhlung fundamentaler Grundrechte. Und das ist viel beängstigender als freigelassene Sicherungsverwahrte.

Nach wie vor klatscht die Masse, wenn die "Bestie" (Bild-Zeitung) am Pranger steht. Sich darüber zu echauffieren, wenn die Kanzlerin sich öffentlich über den Tod des Massenmörders bin Laden freut, ist ähnlich bigott wie die Reaktion der Politik auf das Urteil der Bundesverfassungsrichter. Diejenigen, die mit ihrem Wahlkampfkalkül in den letzten Jahren populistisch die Straftatbestände ausgeweitet haben, begrüßen die richterlich verordnete Revolution.

Das ist imposant. Ob auch bei der breiten Masse die Einsicht einkehrt, dass Resozialisierung eben kein Firlefanz ist, der nur Geld kostet? Auch Straftätern, die Frauen vergewaltigt oder sich an Kindern vergangen haben, muss eine realistische Perspektive geboten werden, wieder in Freiheit zu kommen.

Martina Thalhofer

KAI SCHLIETER ist Schwerpunktredakteur der taz.

In einer Gesellschaft, die keine Postdemokratie sein will, ist es nicht hinnehmbar, die Rechtssicherheit für einen verhassten Personenkreis aufzuheben.

Aber was soll mit Tätern getan werden, die Frauen vergewaltigt oder Kinder ermordet haben? Wir müssen diese Menschen ertragen. Auch in Freiheit. Auch in unserer Nachbarschaft. Angst und Vollkaskomentalität sind die Kehrseite des politisch erzeugten Ausnahmezustandes. Die Gefahr für Kinder und Frauen geht statistisch nicht vom Fremden in Schwarz aus. Sondern vom Ehemann und Vater.

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Reportage & Recherche
Seit 2008 bei der taz. Von 2012 bis März 2017 leitete er das von ihm gegründete Ressort Reportage & Recherche. Danach Wechsel zur Berliner Zeitung / Berliner Kurier. 2015 erschien sein Buch "Die Herrschaftsformel. Wie Künstliche Intelligenz uns berechnet, steuert und unser Leben verändert". 2011 erschien sein Buch "Knastreport. Das Leben der Weggesperrten".
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8 Kommentare

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  • PG
    P. Gumpel

    Ein Kommentar der sich doch positiv von einer Allgemeinen unreflektierten Hysterie abhebt. Ein dank an den Autor. Zu dem gesamten Komplex der Sicherungsverwahrung findet sich unter "dasDossier" ein umfangreicher Hintergrundartikel:

    http://www.dasdossier.de/magazin/medien/einfluss-inhalt/im-zweifel-fuer-die-sicherheit

  • K
    Knorz

    Herr Schlieter könnte ja mal den Anfang machen und einen gefährlichen Straftäter bei sich im Haus aushalten. Diese Forderungen "Wir müssen das aushalten", sind ja ganz schön, vor allem wenn sie so nett anonym bleiben und man selbst keine Verantwortung übernehmen muss. Wenn man dan selbst betroffen ist, sieht die Situation oft ganz anders aus. Siehe auch die Multi-Kulti-Prediger, die, wenn ihre Kinder zur Schule gehen sollen, ganz schnell den "Kiez" verlassen.

     

    Grandios auch, wie Schlieter es am Ende auch noch schafft, die ganze Thematik gegen das Modell Familie zu wenden...

     

    Da fällt einem nichts mehr ein...

  • EV
    Ein Vater

    offenbar haben die Leser, die sich hier zustimmend äußern, selbst keine Kinder. Wenn einer der freigelassenen Sexualstraftäter sich dann wieder ein Kind greift, möchte man diese Leser bitten, den Eltern zu erklären, dass statistisch ja doch viel eher Familie oder Bekannte der Täter hätten sein können. Irre!

  • JG
    Jürgen Gerdom

    Resozialisierung, also die Behandlung von Straftätern im Vollzug zur Verhinderung weiterer Straftaten, war noch nie Sozialromantik, sondern schon immer der einzig sinnvolle, moderne und rein pragmatische Lösungsansatz für ein gesellschaftliches Problem. Einfach nur Wegschließen für eine möglichst lange Zeit ist Mittelalter. Tatsächlich geht der Trend aber immer noch hin zum reinen Verwahrvollzug, geräuscharm und kostengünstig, zunehmend verbunden mit einer Privatisierung der Fachdienste, was zu einem betriebswirtschaftlichen Controlling führt: Unternehmen wollen Gewinne machen, Kosten reduzieren, und nicht gesellschaftliche Probleme lösen. Die Mentalität, in der Straftäter ohne nennenswerte Behandlung verwahrt werden, ist dieselbe, in der S-Bahnen nicht gewartet werden aus Kostengründen - es steigert die Gewinne und führt zu Unfällen. Wollen wir hoffen, dass das Urteil des BVerfG in diesem Sinne eine wichtige Debatte wieder zum Leben erweckt; der gegenwärtige Trend jedenfalls ist nicht nur menschenverachtend aus Sicht der Straftäter und ihrer Angehörigen, sondern vor allem auch gefährlich für uns alle.

  • K
    kto

    @ Spaßbremse: "Ein sehr mutiger Kommentar, der endlich mal die Wahrheit sagt: Das Leben ist lebensgefährlich! Ja, wir werden auch weiterhin mit Kriminaliät leben müssen..."

     

    Haben Sie das geschrieben bevor Sie von kriminellen Jugendlichen auf dem U-Bahnhof zum Krüppel geschlagen wurden oder danach? Deren "Freiheit", Sie mit ihrer Auffassung von "Dialog" zu konfrontieren, rangiert bei Ihnen hoffentlich über Ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Anders wäre das Leben ja auch nicht auszuhalten.

  • W
    Wiebitte?

    Kai ist eben weder eine Frau noch ein Kind.

  • S
    Spaßbremse

    Ein sehr mutiger Kommentar, der endlich mal die Wahrheit sagt: Das Leben ist lebensgefährlich! Ja, wir werden auch weiterhin mit Kriminaliät leben müssen. Die deutsche "Vollkaskomentalität" würde, wenn wir wie bisher so weitermachen, irgendwann in einer totalen Unfreiheit enden, in der Sicherheit über Freiheit geht.

     

    Leider wurde die öffentliche Meinung die letzten Jahre von der "B*"-Zeitung und den Stammtischen beherrscht. Selbst die taz war dagegen nicht mehr gefeilt und war in einigen Themenbereichen - etwa Sexualstraftaten - kaum noch vom Mainstream zu unterscheiden. Ehrlich zu sagen wie es ist - nämlich das Freiheit auch bedeutet, Risiken in Kauf nehmen zu müssen, wird dem wütenden Straßenmob gar nicht gefallen. Wäre aber notwendig, wenn wir nicht irgendwann in einer Sicherheits-Diktatur enden wollen.

  • J
    Julia

    Sehr richtig.

    Kollegen und Freundeskreis nicht zu vergessen.

     

    Auch die zahlenmäßige Einordnung wäre noch wichtig.

    Meines Wissens liegt die Anteil der Vergewaltigungen, die von wirklich Fremden ausgehen, im einstelligen Prozentbereich.

     

    Die Gefahr, die von Verwandten, Freunden und Kollegen ausgeht ist also 10-mal- bis 100-mal höher, das käme auf die genauen Zahlen an.