Kommentar Sexuelle Gewalt in Indien: Belagert von Männern
Der Mangel an staatlichen Grundleistungen sorgt dafür, dass Indiens Frauen sexueller Gewalt ausgeliefert bleiben. Die liberale Elite verkennt das.
E s müsste so viel geschehen. Indiens Frauen sind belagert von einem gewaltbereiten Männervolk. Ein US-kanadisches Forscherteam von der New York University und der University of British Columbia (Siwan Anderson/Debraj Ray) hat kürzlich berechnet, dass in Indien bereits 25 Millionen Frauen fehlen, die Opfer von selektiven Abtreibungen, selektiver Unterernährung, Vergewaltigungen, Brautverbrennungen und anderen Diskriminierungen wurden. Jedes Jahr, so Siwan Anderson und Debraj Ray, würde Indien weitere zwei Millionen Frauen verlieren.
Gegen diese Massenvernichtung von Frauen war die indische Gesellschaft bisher wehrlos. Daran änderte auch eine profilierte Frauenbewegung nichts. Keine Sonia Gandhi, die das Land seit 2005 regiert, keine Arundhati Roy, die zu den am meisten beachteten Schriftstellerinnen der Welt zählt, konnten der Gewalt gegen die indischen Frauen bisher Einhalt gebieten. Powerfrauen wie sie, von denen Indien dringend mehr braucht, verstärkten jedoch im Ausland den falschen Eindruck, dass sich Indiens Frauen schon zu wehren wüssten. Doch dem war in Wirklichkeit nie so.
Erst die jüngsten Proteste gegen die Schreckenstat von sechs Männern an einer Medizinstudentin in Delhi haben die Hoffnung aufkeimen lassen, dass heute ein breiterer Teil der indischen Gesellschaft die Bedrohung der Frauen ernst nimmt. Zum ersten Mal nahmen auch viele Männer an den anschließenden Demonstrationen teil.
berichtet seit 2009 für die taz und die Zeit aus Indien und Pakistan. Davor arbeitete er von 1990 bis 1997 als Korrespondent in Tokio und danach 12 Jahre in Peking, wofür ihm 2007 der Liberty Award verliehen wurde.
Indiens neue Medien, zu denen auch die vielen populären privaten Fernsehsender zählen, die es vor zehn Jahren noch nicht gab, nahmen sich wie nie zuvor des Frauenthemas an. Es war die Stunde der Starmoderatoren, die auf dem Bildschirm auf ewig-gestrige Gurus und Politiker schimpften, welche die Vergewaltigungstat immer noch relativierten.
Aber auch Regierung, Justiz und Polizei wollten nach anfänglichem Zögern zumindest so tun, als würden sie mitziehen. In der Hauptstadt Delhi werden nun Polizistinnen rund um die Uhr auf jeder Polizeistation eingesetzt. Die Justiz in Delhi verspricht, Tausende von aufgestauten Vergewaltigungsprozessen mit dem Einsatz zusätzlicher Richter schnell zu lösen. Noch immer berichten die Zeitungen auf ihren Titelseiten von neuen Vergewaltigungsfällen, die früher nur eine Kurzmeldung wert waren. Der gute Wille bleibt zumindest vielerorts erkennbar.
Angst vor mehr staatlicher Macht
Zur gleichen Zeit aber mehren sich die Zweifel des traditionell liberalen Teils der indischen Öffentlichkeit. Hinter dem Ruf nach mehr Sicherheit für Frauen machen sie unschwer das allgemeine Bedürfnis nach mehr Macht und Autorität des Staates aus. Schon befürchten diese Stimmen, dass am Ende nur ein brachial auftretender Politiker wie der Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat, Narendra Modi, von den Protesten profitieren und die nächste Parlamentswahl gewinnen könnte.
Doch die Liberalen verkennen einen Kern des Problems. Es ist tatsächlich ein Mangel an staatlichen Grundleistungen, welcher der Gewalt gegen Frauen keine Grenzen setzt. Kaum eine indische Frau traut sich bisher auf eine Polizeistation. Das lässt sich ziemlich leicht ändern. Delhi bemüht sich gerade darum.
Ebenso lassen sich Vergewaltiger vor Gericht verurteilen, wenn die Justiz es wirklich will. Zudem bietet die Gewalt gegen Frauen den Medien Endlosstoff: Denn ihre Spur führt ins Innere der indischen Großfamilie, wo es Onkel und Tanten sind, die auf der Abtreibung des weiblichen Fötus bestehen, oder der Cousin seine Kusine vergewaltigt. Ein großes Fressen für Bollywood?
Und doch bleiben Zweifel, ob das anfängliche Aufbäumen von Männern, Medien, Filmindustrie und Teilen des Staatsapparats irgendeine Wirkung hinterlassen wird. Gerade an seiner Spitze wird Indien heute von einer unerträglichen Selbstzufriedenheit getragen. Die oberste Politiker-, Unternehmer- und Künstlerklasse des Landes spiegelt sich seit Jahren voller Lust in ihrem demokratischen Selbstbild.
Es braucht schon noch mehr Protest, um diesen Leuten – von einem Schriftsteller wie Salman Rushdie über einen Unternehmer wie Ratan Tata bis zu einem Politiker und Schriftsteller wie Shashi Tharoor – zu beweisen, dass in dem Leben der indischen Frauen zurzeit etwas grundfalsch läuft.
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