Kommentar Schweizer Volksentscheide: Permanente Mobilmachung
Nach dem Hamburger Desaster beim Volksentscheid stellt sich die Frage, wie viel direkte Demokratie gut für ein Land ist. Die Schweiz kann Deutschland ein Beispiel geben – ein abschreckendes Beispiel.
B ERLIN taz Das Leben als permanente Mobilisierung – wer kann das wollen? Entscheidungen per Volksabstimmungen sind keineswegs per se "demokratischer" als jene, die per Mandat in der repräsentativen Demokratie getroffen werden. Wer unter den Spielregeln der direkten Demokratie gewinnt, das ist allzu häufig eine Frage der besseren Ressourcen, des Badewetters oder seiner Abwesenheit, keineswegs eine an der Wählerbasis vorherrschenden, demokratischeren Gesinnung.
In Hamburg mobilisierten jetzt SPD und Linke vielleicht nur deswegen nicht, weil sie Schwarz-Grün eins auswischen wollten – Schulrefom egal. Nicht immer ist das Volk so vernünftig wie in Berlin, wo rechts-populistische Mobilisierungen scheiterten. Konservative "Pro Reli" oder wirtschaftsnostalgische "Pro Flughafen Tempelhof"-Initiativen kosteten aber auch in Berlin alle viel Kraft.
Als Musterland der direkten Demokratie gilt gemeinhin die Schweiz. Aber hier sind es vor allem zwergimperialistische Nationalisten, die die Mittel der direkten Demokratie gegen eine gerechtere Gesellschaft wenden. Der abendländische Fundamentalismus setzte dort im letzten Jahr durch, was ihrem parlamentarischen Arm, der SVP, innerhalb der staatlichen Institutionen nie gelang. Per Volksabstimmung schränkten sie die Religionsfreiheit ein, verboten den Bau neuer Minarette.
Prinzipien-Schweizern genügt es nicht, alle vier bis fünf Jahre ein neues Parlament zu bestimmen. Nein, in permanenten Aktivbürger-Mobilisierungskämpfen versuchen sie die tatsächliche Stimmung der Bevölkerung zu messen, um so die gewählten Volksvertreter unter Druck zu setzen. Die gesamte Gesellschaft handelt permanent aus, welche Farbe die Müllsäcke haben. Ein abschreckendes Beispiel. Aus der direkten Demokratie der Schweiz resultieren so vor allem Kleinlichkeit, Rechthaberei, eine ideologische Gesamtüberprüfungsorgie, der sich viele – zumindest vorübergehend – durch Migration ins Ausland entziehen.
Zur Verdeutlichung ein Auszug aus den kommenden Volksabstimmungskämpfen der Schweiz: "Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht"; "Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch Energielenkungsabgaben"; "Wenden wir die Menschenrechte an auf Frauen und Männer = Schweiz"; "Schutz vor Rasern"; "Schluss mit der MwSt-Diskriminierung des Gastgewerbes!"; "Neue Arbeitsplätze dank erneuerbarer Energien (Cleantech-Initiative)"; "Für ein liberales Rauchergesetz"; "Familieninitiative: Steuerabzüge auch für Eltern, die ihre Kinder selber betreuen"; "Volkswahl des Bundesrats"; "Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache – Entlastung der Krankenversicherung durch Streichung der Kosten des Schwangerschaftsabbruchs aus der obligatorischen Grundversicherung"; "Für eine starke Post"; "Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen" und so weiter und so fort.
Wollen wir das? Oder doch lieber in einer (mehrheitlich) repräsentativen Demokratie an einem schönen Fluss liegen und Schillers "Wilhelm Tell" für die Geschichte lesen: "Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, / wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / wenn unerträglich wird die Last – greift er / hinauf getrosten Mutes in den Himmel, / und holt herunter seine ew'gen Rechte, / die droben hangen unveräußerlich / und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – / Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, / wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr / verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – / Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen / gegen Gewalt (…)" Das tut's doch auch.
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