Kommentar SPD und ihre Basis: Angst vor Genosse August

Alle SPD-Mitglieder sollen über Schwarz-Rot abstimmen. Ein Akt der Demokratie? Eher sieht es so aus, also ob sich die Führung aus der Verantwortung stiehlt.

„Scheiße! Trotzdem, SPD“: die Parteispitze im Willy-Brandt-Haus am Wahlabend. Bild: ap

Was würde August jetzt eigentlich machen? August, der hessische Drucker, im Glasschrank die Ehrenurkunde für 40 Jahre SPD-Mitgliedschaft, ewig changierend zwischen Aufsässigkeit und Stolz, wenn ihn nur einer von oben zu würdigen weiß. Der Arbeiter ist vielleicht die am genauesten gezeichnete Figur des Kabarettisten Georg Schramm. August hat bei den Sitzungen seines Ortsvereins immer denselben Platz, den „Juso-Bub“ neben sich. Zu seinem 40-jährigen SPD-Jubiläum sangen die Genossen natürlich „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“.

Jetzt, vor den heute beginnenden Sondierungsgesprächen mit der Union, bestimmt die Angst vor August das Handeln der SPD-Führung; die Furcht, dass der Ärger unter einfachen Mitgliedern, kleinen und mittleren Funktionären eine Große Koalition unmöglich machen könnte.

Noch immer haben die Sozialdemokraten ein schwieriges, erratisches Verhältnis zur innerparteilichen Demokratie. Nach der Wahl 2009 versprach Parteichef Sigmar Gabriel eine größere Beteiligung der Mitglieder. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wurde 2012 dennoch von oben nominiert; wie üblich mussten die unteren Gremien anschließend zustimmen, um die Parteispitze nicht zu beschädigen.

Verantwortung wird auf die Basis abgewälzt

Den Tiefpunkt markierte vielleicht der Augsburger Parteitag im April, auf dem das Regierungsprogramm beschlossen wurde. Auf ganze fünf Stunden war die Veranstaltung angesetzt. Den Großteil davon verbrachten die Genossen damit, die Reden der Führung zu beklatschen. Das Programm wurde in aller Schnelle durchgewunken. Ein Event für die Medien, mit den Delegierten als Staffage. Ihre Anfahrt wird meist länger gedauert haben als der gesamte Parteitag.

Nun also erst der Parteikonvent der SPD am letzten Freitag, dann ein Mitgliederentscheid über eine Große Koalition. Das Muster hat sich kaum geändert: Zunächst wurde der Konvent mit einem Vorstandsbeschluss zugunsten von Sondierungsgesprächen mit der Union unter Druck gesetzt, ebenso zu entscheiden. Was er tat.

Im Spätherbst werden dann, falls nicht Angela Merkel die SPD vor Schwarz-Rot bewahrt, die Reporterteams an die Basis ausschwärmen. Im Ruhrgebiet und anderswo werden sie nach den Augusts der Partei suchen, ihre Furcht vor einer Großen Koalition aufschreiben und eine Spannung suggerieren, die nicht vorhanden ist.

Denn noch größer als die Angst vor Merkel wird die Angst der Mitglieder sein, ihre eigene Führung, Gabriel vorweg, durch ein Nein zum Koalitionsvertrag hinwegzufegen. Genosse August wird dann verstummen, der Juso-Bub, der jetzt noch Reden für Rot-Rot-Grün schwingt, ebenso. „Scheiße! Trotzdem, SPD“, hat der britische Journalist Neal Ascherson kürzlich diese Haltung zusammengefasst.

In der SPD-Führung kennen sie ihre Basis genau. Und deshalb bleibt die Frage, ob der angekündigte Mitgliederentscheid nun ein Akt der Demokratie ist oder das Gegenteil davon: ein Mittel Gabriels, der Basis die Haftung für etwas zuzuschieben, was sie nur aus Gründen der Parteiräson unterstützt – und sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen.

Natürlich hätte es Alternativen gegeben. Der Konvent hätte ergebnisoffen beraten, der Parteivorstand zwei Mitgliederabstimmungen beschließen können: eine vor der Aufnahme von Koalitionsgesprächen, mit welchen Partnern verhandelt werden soll. Und eine danach.

Mitgliederentscheide nur bei Bedarf

Vor allem müsste sich die SPD verbindliche Regeln geben, wann Mitgliederentscheide obligatorisch sind. In der Satzung sind sie bisher als Kann-Regelung aufgeführt. Aber in einer Partei, in der offene Debatten stets die Karriere kosten können, wird ein solcher Entscheid eher bei Bedarf von oben als manipulatives Mittel eingesetzt als von unten zur Korrektur von Entscheidungen eingefordert.

Für die Zukunftsfähigkeit der SPD ist mehr innere Demokratie ebenso wichtig, wie den Mindestlohn in den Koalitionsgesprächen durchzusetzen. Natürlich lässt sich mit einsamen Beschlüssen auch der Kanzlerkandidat 2017 bestimmen. Aber wen will die Partei als Nachwuchs gewinnen? Die Generation August ist schon in Rente. Und die Zahl der Juso-Buben und -Mädel, die sich wie in Augsburg damit begnügen, zehn und mehr Stunden durch die Republik zu fahren, um der Parteispitze zuzujubeln, dürfte begrenzt sein. Die kreativsten Köpfe werden es ohnehin nicht sein.

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Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.

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