Kommentar Russland-Polen: Gedächtnisschwund in Russland
Moskau vergisst gerne beim Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg seine Rolle im Baltikum und den Hitler-Stalin-Pakt. Putins Besuch in Warschau könnte die starren Fronten lösen.
E in Kniefall war von Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin beim Besuch Polens anlässlich des 70. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkriegs nicht zu erwarten. Dass ohne Russland ein Sieg über die Nazis nicht möglich gewesen wäre, darüber besteht kein Zweifel.
Auch Deutschland stiehlt sich nicht aus seiner Verantwortung als Kriegsverursacher: Für Kriegsschuld und Genozid gibt es weder Relativierungen noch ein Verfallsdatum. Das Land hat den Demutsdiskurs inzwischen verinnerlicht, er gehört zum Selbstverständnis, so wie das Negative der eigenen Geschichte zum Konstituens der bundesrepublikanischen Identität geworden ist.
Ganz anders steht es um die Geschichte beim Sieger Russland, der die Hauptlast des Krieges zu tragen und ertragen hatte. Mit Inbrunst verteidigt Moskau seine spezifische Sicht auf den Großen Vaterländischen Krieg und die Rolle des Generalissimus Stalin. Bislang begann der Zweite Weltkrieg in der russischen Geschichtsdarstellung mit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion 1941.
Die gemeinsame Aufteilung Osteuropas durch Hitler und Stalin hat in der offiziellen Kriegsgeschichte nicht stattgefunden. Polen- und Finnlandfeldzug, die Besetzung des Baltikums werden als regionale Konflikte ohne imperialen Impetus behandelt. Peinlichst achtet der Staat darauf, dass sich an dieser lupenrein aseptischen Version nichts ändert. Die jüngsten Versuche des russischen Geheimdienstes, Polen eine Mitschuld am Kriegsausbruch, ja Kumpanei mit Hitler zu unterstellen, waren bisher der traurige Höhepunkt.
Man mag es Geschmacklosigkeit oder auch Dummheit nennen. Russland fördert damit in jedem Fall, wogegen es antritt: die Schmälerung des eigenen Beitrags zum Sieg. Die Engstirnigkeit flößt den kleinen Nachbarn Ängste ein. Ein neues Russlandbild kann auf diesem Humus nicht entstehen.
Vor diesem Hintergrund überraschen Putins Visite und die gemäßigten Töne in und gegenüber Polen. Mit dem Besuch beim ungeliebten Nachbarn am Gedenktag zum Kriegsausbruch hat der Exkremlchef nolens volens Bewegung in das starre Geschichtsbild gebracht. Das Verhältnis zu Warschau entspannt sich deswegen nicht gleich. Aber für die Diskussion über den Krieg, dessen Beginn und Motive, öffnet es in den ahnungslosen Weiten Russlands zumindest ein Fenster.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Gerichtsentscheidung zu Birkenstock
Streit um die Sandale