Kommentar Proteste in Frankreich: Selbstverschuldete Revolte
Mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wäre hilfreich. Doch ein gelockerter Kündigungsschutz, um rascher neu einzustellen, ist völlig unrealistisch.
F rankreich leidet an einem Reformstau. Das Land schafft es einfach nicht, einen Weg aus der Krise und der Massenarbeitslosigkeit zu finden. Die Misere wird zu Recht in ganz Europa beklagt, denn sie gefährdet auch die Eurozone. Mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wäre zweifellos hilfreich. Das bestreiten auch die Gegner der umstrittenen Arbeitsrechtsreform nicht. Die Frage aber ist, wie diese Modernisierung – vor allem der Arbeitszeit und des Kündigungsschutzes – angepackt wird.
Frankreichs Regierung will das gesetzliche Korsett lockern und den Unternehmen mehr Handlungsfreiheit geben. Auch das scheint auf den ersten Blick gut. Tatsächlich aber werden die Arbeitnehmer so der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt. Statt den Dialog der Sozialpartner zu stärken, schwächt diese Reform die Gewerkschaften, die mit einem Organisationsgrad von nur 8 Prozent in der Privatwirtschaft ohnehin kaum repräsentativ sind.
In Frankreich sind die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine permanente Kraftprobe. Wer, wie dies jetzt die Regierung vorhat, der einen Seite Zugeständnisse macht, fordert zwangsläufig die Gegenseite heraus. Die Arbeitnehmer, die Arbeitslosen und die Jungen, die gegen die geplante Reform protestieren, haben keinen Anlass, den Unternehmern Vertrauen zu schenken. Ein gelockerter Kündigungsschutz, um rascher neue Leute einzustellen? Das tönt aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte für sie wie ein Märchen – völlig unrealistisch.
Ihr einziger Schutz war bisher das Gesetz, so kompliziert und starr es auch sein mag. Da die Sozialpartnerschaft nie funktioniert hat, musste der Staat immer schlichten und richten. Das gilt in Frankreich immer noch als Errungenschaft und Grundpfeiler des Sozialmodells. Wer das infrage stellt, verabschiedet sich vom sozialen Frieden. Wer allein auf das freie Spiel der Kräfteverhältnisse setzt, muss sich über die Revolte, die zur französischen Politkultur gehört, nicht wundern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“